Elke Mehnert (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht (= Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung; Bd. 5), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 464 S., ISBN 978-3-631-35735-4, EUR 50,10
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Sylvia Hahn / Andrea Komlosy / Ilse Reiter (Hgg.): Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung in Europa 16. - 20. Jahrhundert, Innsbruck: StudienVerlag 2006
Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948-1972), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007
Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. Aus dem Polnischen von Stephan Niedermeier, München: Oldenbourg 2003
Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin: Aufbau-Verlag 2005
Jan Mlynarik: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945-1953. Mit einem Vorwort von Otfried Pustejovsky, München: Herbig Verlag 2003
Seit Louis Ferdinand Helbigs "Der ungeheuere Verlust" (1988) ist die deutschsprachige Belletristik der Nachkriegszeit, die Flucht und Vertreibung zum Gegenstand hat, kein schwarzer oder weißer Fleck der Forschung mehr. Gleichwohl ist seither mehr denn ein Jahrzehnt vergangen, und im übrigen hat man gelernt, auch schon wahrzunehmen, dass in Polen und in Tschechien dieser Themenbereich in die Literatur Eingang gefunden hat. Sehr viel aber wusste man hier zu Lande nicht darüber.
Nun hat die Chemnitzer Professorin für deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik Elke Mehnert, die sich dem "imagologischen" Ansatz von Hugo Dyserinck verpflichtet weiß, sich dieses Themas im, wenn schon nicht konsequent vergleichenden, so aber doch die Literatur der drei genannten Länder in Einzelstudien überblickenden Sinne angenommen und einen Sammelband "Landschaften der Erinnerung" vorgelegt, der unterschiedlich strukturierte und "nicht immer stringent [dem] imagologischen Analyseansatz" zugeordnete Beiträge zusammenführt. Sie stammen zum größten Teil von einem Autorenkreis, der "dem Chemnitzer Imagologie-Projekt mehr oder weniger nahe steht". Es wird nicht ganz klar, in welcher Weise die mit "I." und "II." benannten beiden Aufsatzgruppen gegliedert sind; der im Vorwort als "zweiter Teil" der Publikation benannte Bibliografie-Anhang trägt im Band die Nummer III. Zwar sind im zweiten Teil auch studentische Arbeiten untergebracht; die Arbeiten dieses Teils sind aber keineswegs immer von geringerer Qualität als die des ersten Teils.
So handfest, knapp und doch systematisch-umfassend der am Anfang stehende "zeitgeschichtliche Abriß" von Christoph Kleßmann über die Historie im doppelten Sinn informiert, das heißt, über das Geschehen wie über die historiographische Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung (auch über die Terminologie), so wenig fügt sich die darauf folgende imagologische Abhandlung von Earl Jeffrey Richards mit ihren zum Teil geistreichen Beobachtungen zu einem Bild des Hauptthemas als "imagologisches Problem". Vielleicht hat das Theorem "Imagologie" hier doch ein zu großes Eigengewicht im Verhältnis zu den übrigen Beiträgen des Bandes, bei denen davon bisweilen nur übrig geblieben ist, dass es eben um das Bild von sich selbst und von anderen geht.
Die fünf weiteren Beiträge des ersten Teiles führen erkenntnisreich in bestimmte Bereiche des Generalthemas ein: Hubert Orłowski (Posen/Poznań) vergleicht deutsche und polnische "Deprivationsliteratur", wie er diese Literaturgattung treffend benennt. Václav Maidl (Prag) weist nicht nur die Ursachen des generellen Desinteresses am Themenbereich in der Tschechoslowakei beziehungsweise in Tschechien auf, sondern gibt darüber hinaus einen Überblick über das, was dennoch zum Thema erschienen ist. Die Herausgeberin selbst stellt dar, wie in der DDR beziehungsweise in den neuen Bundesländern das Thema aufgegriffen wurde - zunächst als Integrationsgeschichte der "Umsiedler", dann erst seit den 1980er-Jahren auch den eigentlichen Vorgang in den Blick nehmend. So gibt sie ein - wenn auch kurzes - Gegenstück zu Helbig, der vor allem westdeutsche Literatur aufarbeitete. Tadeusz Najmowicz (Warschau) konzentriert sich mit seinem etwas gröber strukturierten Beitrag auf die Literatur zu Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen, die er mit Recht als relativ gering besetzt erkennt. Der erste Teil des Bandes endet mit einem kritischen Beitrag von Jürgen Joachimsthaler (Oppeln/Opole), der die lange Zeit der Abdrängung in die rechte Ecke alles dessen beschreibt, was mit Vertreibung zu tun hatte, dann die Implikationen der Kindheits-Sicht eines weiten Bereiches der jüngeren Belletristik zum Thema mit ihrer Romantisierung der Heimat und ihren Rückzug in mütterlich-archaische Kinderwelten vermeintlich deutscher, unschuldiger Landschaften charakterisiert.
Der zweite Teil des Bandes enthält ebenfalls interessante Fallstudien, die hier nicht vollständig im einzelnen genannt werden können. Um nur drei Beispiele herauszugreifen: Urszula Bonter (Warschau) spürt der (reichlich defizitären) rückwirkenden Sicht polnischer "Repatrianten" auf die nach ihrer Ankunft in Schlesien vertriebenen Deutschen nach. Thomas Krause (Chemnitz, im Institut der Herausgeberin) spürt Stereotypen in Barbara Suchners Vertreibungsschriften auf. Gabriela Ociepa (Warschau) analysiert eine etwas verquere Erzählung Ernst Jüngers zum Themenbereich.
Die von Krause und Mitarbeiterinnen erstellte Bibliografie ist mit Umsicht zusammengestellt, wobei zur Vorbereitung unter anderem auch die Gesamtkataloge der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne genutzt wurden. Die in der Bibliografie genannten, wie auch die im Sammelband insgesamt behandelten Werke greifen selbst weit in den Bereich der Trivialliteratur hinein - in ihr kann man verständlicherweise Hetero- und Autostereotypen am deutlichsten aufspüren.
Insgesamt wäre dieser Sammelband dem eingangs genannten Buch von Helbig durchaus an die Seite zu stellen, wenn man eine erste, vielseitige Information über die bei ihm nicht behandelten Bereiche außerhalb Westdeutschlands gewinnen möchte.
Hans Lemberg