Sylvia Hahn / Andrea Komlosy / Ilse Reiter (Hgg.): Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung in Europa 16. - 20. Jahrhundert, Innsbruck: StudienVerlag 2006, 265 S., ISBN 978-3-7065-4301-9, EUR 24,90
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Das Thema Migration, so scheint es, ist in Publizistik und Wissenschaft allgegenwärtig. Mit gerade im Hinblick auf die aktuellen Probleme zentralen Aspekten des Phänomens Migration, nämlich denen der Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung, beschäftigt sich nun ein von Sylvia Hahn, Andrea Komlosy und Ilse Reiter herausgegebener Sammelband. Trotz der globalen Dimension der Problematik beschränken sich die Herausgeberinnen auf Europa. Zur Begründung betonen sie in ihrer Einleitung einerseits die historische Tradition von Ausweisung und Vertreibung in Europa, andererseits den Vorbildcharakter des europäischen Nationalstaats und die durch den Kolonialismus geradezu exportierten Problemlagen. Tatsächlich dürfte aber auch die schon bei der Konzentration auf einen Kontinent beträchtliche Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas die von den Herausgeberinnen vorgenommene Selbstbeschränkung rechtfertigen.
Es ist positiv hervorzuheben, dass die schon im Titel herausgestellte Ausweitung der Perspektive auf die gesamte Neuzeit, also vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in dem Band weitgehend eingelöst wird, auch wenn der Schwerpunkt in der Neuesten Geschichte liegt. Den Versuch eines kulturübergreifenden Vergleichs unternimmt Hans-Heinrich Nolte für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Dabei sei der Ausschluss von Minderheiten als ein geradezu typisches Element der Stabilisierung von Staaten anzusehen. Die Intoleranz der römisch-katholischen Kirche habe aber in Europa seit der Spätantike zu einer Radikalisierung geführt, während der Islam Minderheiten geduldet habe.
Mit Ausweisung und Exil als Strafe im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit beschäftigt sich der Beitrag von Gerd Schwerhoff. Am Beispiel der Reichsstadt Köln ergänzt Schwerhoff das gängige, von Folterinstrumenten und vielfältigen Hinrichtungspraktiken geprägte Bild des Justizvollzugs im Alten Reich um eine wichtige Facette, die bislang zu wenig beachtet wurde. Der Beitrag macht zugleich aber auch deutlich, dass die Strafe des Verweises relativ flexibel gehandhabt wurde und dass der Stadt verwiesene Kriminelle oftmals problemlos wieder zurückkehren konnten. Einen Überblick über die Migration österreichischer Protestanten gibt der Beitrag von Ernst Wangermann, der insbesondere die Praxis der Transmigration, der gezielten Deportation von Protestanten aus den österreichischen Erblanden nach Siebenbürgen, in den Blick nimmt. Diese unter Maria Theresia perfektionierte Praxis kam in Einzelfällen sogar noch unter Kaiser Joseph II. vor.
Mit der Entstehung moderner Nationalstaaten seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert veränderten sich die Bedingungen für Ausweisungen, Abschiebungen und Vertreibungen. Der Einschluss und der Ausschluss von Menschen aus der Gemeinschaft wurden nun wesentlich über die Zugehörigkeit zum Nationalstaat vollzogen, wie Hanns Haas in seinem Beitrag zur ethnischen Homogenisierung hervorhebt. Seien Vertreibungen zuvor eher aus religiösen Gründen durchgeführt worden, so sei seit der französischen Revolution die ethnische Homogenisierung in den Mittelpunkt getreten. Haas unterscheidet dabei freiwillige und erzwungene Assimilation sowie Vertreibung und Deportation, wie sie etwa in der stalinistischen Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland praktiziert wurden. Von Abschiebungen betroffen waren vielfach auch Arme, Bettler und Landstreicher, wie Andrea Komlosy zeigt. In der Habsburgermonarchie wurden solche Personen im Regelfall in die Heimatgemeinde abgeschoben, die für die Armenfürsorge grundsätzlich zuständig war. Dabei wurde systematisch zwischen Inländern und Ausländern unterschieden. Während Inländer nicht mehr ohne weiteres ins Ausland abgeschoben werden konnten, durften unerwünschte Ausländer aus dem Staatsgebiet ausgewiesen werden.
Mit politischen Emigrationen im 19. Jahrhundert seit der französischen Revolution beschäftigt sich der Aufsatz von Sylvia Hahn. Im Zentrum der Betrachtung steht bei Hahn der Umgang der Aufnahmestaaten mit den Emigranten und Flüchtlingen. Die Frage der ethnisch-kulturellen Homogenisierung auf dem vom osmanischen Reich beherrschten Balkan und Kleinasien zwischen 1878 und 1923 steht im Mittelpunkt der Erörterungen von Fikret Adanır. Zwar erwies sich insbesondere im Falle der Türkei der Übergang vom Vielvölkerreich zum modernen Nationalstaat als langwierig, doch könne - so Adanır - von einem prinzipiellen Unterschied zwischen den Nationenbildungsprozessen in West- und Ost- bzw. Südosteuropa und Kleinasien keine Rede sein.
Zu Ausweisungen und Ausbürgerungen führte auch der Übergang vom habsburgischen Vielvölkerstaat zur Republik Österreich zwischen den Weltkriegen. So macht Ilse Reiter deutlich, in welcher Weise nichtdeutsche Bevölkerungsgruppen aus der ehemaligen Donaumonarchie in der neuen Republik ein- oder ausgegrenzt wurden. Dabei seien insbesondere die sogenannten Ostjuden ausgeschlossen worden. Mit der jüdischen Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem an das Reich angeschlossenen Österreich befasst sich der Beitrag von Helga Embacher. Die Autorin weist darauf hin, dass das Schicksal der jüdischen Emigranten in der Forschung vor dem Hintergrund der Erforschung des Holocaust oft vernachlässigt worden sei. Viele Juden, die zunächst abgewartet hätten, hätten vielfach enorme Schwierigkeiten gehabt, Deutschland zu verlassen. Einerseits sei ihnen der Abzug von Seiten der nationalsozialistischen Machthaber durch zusätzliche Steuern und Abgaben erschwert worden, andererseits hätten zahlreiche Länder den Zuzug von Flüchtlingen zu quotieren versucht, so dass vielen nur sehr entfernte Zufluchtsorte wie etwa Shanghai geblieben seien.
Zum Schluss des Buches widmet sich der Aufsatz von Beat Leuthardt der Migrationspolitik der EU, die als zunehmend restriktiv charakterisiert wird. Leuthardt geht in seinem Beitrag von der - von ihm freilich nicht belegten - Darstellung einer angeblich liberaleren Grundhaltung gegenüber Ausländern in den 1970er und 1980er Jahren aus. Vor diesem Hintergrund entfaltet er eine Negativcharakterisierung der Politik der letzten Jahre, die bisweilen die Grenze zur Polemik überschreitet. Vielleicht ist diese Vorgehensweise symptomatisch für mehrere Beiträge in dem vorliegenden Band. Schon in der Einleitung der drei Herausgeberinnen werden die persönlichen politischen Standpunkte in den Mittelpunkt der Argumentation gestellt, etwa wenn die desintegrativen Wirkungen der europäischen Einigung an den Rändern der EU herausgehoben werden (7 f.). Politische Postulate - so sympathisch sie sein mögen - werden dem Leser nicht transparent gemacht, geschweige denn hinreichend begründet, obwohl sie für den Gang der Argumentation vielfach wesentlich sind. Freilich ist den verschiedenen Autoren zugute zu halten, dass eine emotional aufgeladene Thematik wie die der Migration und Vertreibung eine konsequent distanzwahrende Analyse erschwert.
Als zentrale Argumentationsfigur vieler Beiträge dient das Muster von Inklusion und Exklusion, das den meisten Ausweisungs- und Abschiebungsvorgängen zugrunde gelegen habe. Dieses Erklärungsmuster vermag nicht immer zu überzeugen, wirkt es doch bisweilen etwas zu schematisch. Übergangsformen und prozessuale Entwicklungen hin zu einer Inklusion - etwa im Rahmen von Integrations-, Akkulturations- und Assimilationsvorgängen - werden kaum angesprochen. Ökonomische Interessen, die bei Verfolgungen und Vertreibungen eine Rolle spielten, werden zwar thematisiert, doch bleiben sie in ihrem Verhältnis zu religiösen und/oder ethnischen Motiven unscharf.
Auffällig ist das Nebeneinander von zum Teil ausgesprochen quellennahen Untersuchungen, unter denen insbesondere der Beitrag von Gerd Schwerhoff positiv hervorzuheben ist, und sehr allgemein gehaltenen Überblicksdarstellungen (Nolte, Wangermann). Insbesondere der zeitlich wie räumlich sehr breit angelegte komparatistische Artikel von Hans-Heinrich Nolte wirkt in seiner Gegenüberstellung von Islam und (römisch-katholischem) Christentum klischeeverhaftet. Insgesamt erscheint die Mischung aus quellennahen Untersuchungen und Überblicksdarstellungen aber durchaus gelungen, zumal die thematische und chronologische Weite des Bandes es mit sich bringt, dass wohl nur wenige Leser in allen Bereichen über Vorkenntnisse verfügen.
Insgesamt bietet der Band einen durchaus nützlichen Zugang zu Formen der Zwangsmigration und vermittelt einen guten Überblick über Funktionen und Mechanismen von Ausgrenzungen, ohne dabei den Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit erheben zu können. Die hier versammelten Aufsätze weisen zudem über den engeren Kontext des Themas hinaus, denn sie führen hin zur Problematik gesellschaftlicher Selbstdefinitionen und Identitätsbildungsprozesse, die seit dem späten 18. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorwiegend über das Konstrukt der Nation vollzogen wurden. So stellt der Sammelband, dessen einzelne Beiträge zudem durch Literaturverzeichnisse abgerundet werden, einen guten Einstieg in die Vielfalt der Thematik dar.
Ulrich Niggemann