Ferdinand Seibt: Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002, 416 S., ISBN 978-3-10-074421-0, EUR 24,90
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Ein mutiges Werk, eins, das wahrscheinlich nur jemand anpackt, der auf ein reiches Gelehrtenleben zurückblicken und auf eine auf mehreren Feldern erworbene wissenschaftliche Kompetenz zurückgreifen kann - nicht zufällig gehen in einer an sich eher knappen Bibliografie Seibts eigene Titel über die Dutzendgrenze hinaus. Zugleich natürlich ein gewagtes Unterfangen, tausend (großzügig verstandene) Jahre europäischer Geschichte und Kultur auf knapp vierhundert Seiten behandeln zu wollen, dies noch dazu in einer Sprache, die den "interessierten Laien" nicht schon nach zwanzig Seiten ermüden (oder resignieren) lässt.
Alles in allem scheint mir das Wagnis gelungen zu sein. Das hat etwas mit dem überhaupt nicht an der reinen Chronologie klammernden Ansatz zu tun, der vielmehr nach verschiedenen Lebensbereichen und Lebenselementen (Kleidung) im Wandel der Jahrhunderte fragt, aber auch mit der Sprache. Seibt hat eine eminente Begabung, pointierend zu formulieren, durch Wortspiele (richtige) Assoziationen herzustellen, durch Sprichworte, Bibelzitate und literarische Beispiele historisch-sozialen Prozessen ein hohes Maß an Plastizität zu verleihen. Dabei schöpft er aus einer intimen Kenntnis der Sprachen, der "Orte" und der Sachkulturen, die insbesondere auch den slawischen (Sprach- und Kultur-) Raum nachhaltig zum Tragen kommen lässt.
Ausgangspunkt ist ein für die verschiedenen Zeitabschnitte je unterschiedlich verstandenes Europa, in das Seibt zum Beispiel Skandinavien nur sehr allmählich hineinwachsen sieht, und als dessen "definitorische Basis" (299) er das lateinische Christentum und das Christentum generell sieht. Das führt unter anderem dazu, dass der europäische Südosten seit seiner "Osmanisierung" weitgehend unberücksichtigt und auch das maurisch geprägte Spanien des Mittelalters ausgeklammert bleiben. Dieses somit nicht von der Geografie, sondern von der Kultur her verstandene Modell ist fraglos in sich stimmig, wird unter der Fragestellung, welche (sehr heterogenen) Faktoren das Europa des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts konstituiert haben, freilich nicht jeden Leser befriedigen.
Ein zweiter Punkt, der diskussionsbedürftig ist, ist der der "letzten tausend Jahre". Seibt erkennt einen Einschnitt um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrtausend, weil damals eine "Konsolidierung der Großherrschaften" erreicht worden sei (23). Freilich sieht er - mit gutem Grund - diese Zäsur nicht als Faktor, dem sich alles unterordnen müsste; Karl der Große, seine Herrschaftstechnik und sein Imperium finden sogar starke Beachtung. Insofern ist die Formulierung mit der "Zwischenbilanz" nach einem Jahrtausend doch eher ein (schöner) Gag des Verlags, der vielleicht aus der jüngsten Millenniumseuphorie geboren wurde.
Das Buch ist in drei Großkapitel unterteilt. Zunächst wird ("Tausend Jahre") eine Epochenstruktur vorgeschlagen, die in den Jahren um 1475 und in einem "langen 19. Jahrhundert" die entscheidenden Weichenstellungen in die Moderne hinein sieht, wird über Raum und Zeit reflektiert. Unter den eigenwilligen Schlagworten "Holz und Stein, Gold und Eisen" werden sodann zentrale Lebensbereiche diachron behandelt: Straßenwesen und Kommunikation, Geld und seine Bedeutung für Staat und Individuum, Häuser im weitesten Sinn (bis hin zu den Gotteshäusern und dem Themenfeld Essen und Trinken), das Eisen in all seinen verschiedenen Verwendungen im Handwerk, auf der Jagd und im Krieg - hier wird aber zum Beispiel auch der (schon angesprochene) weite Bereich der Kleidung behandelt. Schließlich (III) "Die Entfaltung Europas", wo Herrschaftsstrukturen und Machtträger, nichtstaatliche Gebilde wie die Hanse, politische Bewegungen und Gruppen, dann vor allem (sehr umfänglich) die Kirche und das "Schöne" in Europa - die Kunst, die Literatur, die Philosophie, die Utopien - behandelt werden.
Seibt ist von der Denomination seines (ehemaligen) Bochumer Lehrstuhls her Mediävist, und von daher kann es kaum überraschen, dass das Buch eine deutlich "mediävistische Schlagseite" hat - für Seibt endet das Mittelalter bezeichnenderweise erst in den Revolutionen des späten 18. und des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist nicht als Beckmesserei zu verstehen, wenn der Neuzeithistoriker das eine und andere vermisst und auszustellen hat: Die Römischen Verträge wurden nicht 1952 unterzeichnet (17), die Niederlande schlossen sich lange vor 1608 zu den Generalstaaten zusammen (340), es gibt, etwa in Gestalt der schlesischen Friedenskirchen, sehr wohl Fachwerkbauten in der Kirchenarchitektur (184), und in Deutschland traten nie "zehn deutsche Königswähler" an (247). Und auch bei manchen Bewertungen ist er zögerlich: Dass 1648 eine wirkliche und nachhaltige "Entmachtung" des Kaisertums (248) erfolgte, wird von der Forschung längst mit guten Gründen bezweifelt. Hugo Weczerka hat ein moralisches Anrecht, dass sein Name korrekt geschrieben wird (269).
Diese Ausstellungen vermindern aber nicht den hohen Respekt vor einer magistralen, originellen "Meistererzählung", die durchaus geeignet ist, ein breiteres Publikum zu erreichen. Wahrscheinlich muss man erst die Grenze zum achten Dezennium überschritten haben, um mit der entsprechenden Souveränität sich an ein solches Opus heranzuwagen.
Heinz Duchhardt