Rezension über:

Jörg Martin Merz: Das Heiligtum der Fortuna in Palestrina und die Architektur der Neuzeit (= Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana; Bd. XXIX), München: Hirmer 2001, 304 S., 257 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-8940-7, EUR 118,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Martin Raspe
Fach Kunstgeschichte, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Martin Raspe: Rezension von: Jörg Martin Merz: Das Heiligtum der Fortuna in Palestrina und die Architektur der Neuzeit, München: Hirmer 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/3485.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Jörg Martin Merz: Das Heiligtum der Fortuna in Palestrina und die Architektur der Neuzeit

Textgröße: A A A

Mit einem neuen Beitrag zum Nachleben der Antike setzt der Autor die traditionsreiche, seit über siebzig Jahren bestehende Serie der "Römischen Forschungen" fort, und dementsprechend vornehm und gediegen sind Satzbild, Material und Ausstattung des Buches. Was den Barockforscher Merz dazu veranlasste, sich mit der Wirkungsgeschichte des Fortunaheiligtums zu beschäftigen, waren die großen Kupferstich-Rekonstruktionen Pietro da Cortonas, die dieser in den 1630er-Jahren für Kardinal Francesco Barberini anfertigte. Nach der Hadriansvilla in Tivoli, die MacDonald und Pinto 1995 ebenfalls besonders unter rezeptionsgeschichtlichem Aspekt würdigten, wird nun ein weiteres antikes Großmonument aus kunsthistorischem Blickwinkel betrachtet.

Merz beginnt seine Studie mit einem kurzen Abriss des archäologischen Forschungsstandes (17-33). Dabei kristallisieren sich die für den Autor entscheidenden Merkmale heraus, denen er im weiteren Verlauf besonders nachgeht: Die monumentale Terrassenanlage, die symmetrische, doppelläufige Rampe und die das Ensemble bekrönende halbkreisförmige Exedra mit dem dahinterliegenden Rundbau. Auf eine kurze Beschreibung des Komplexes folgen Überlegungen zu den italischen Vorbildern und zu den möglichen Absichten der Praenestiner; eine eingehendere und kritische Analyse der kultischen und sonstigen Funktionen der einzelnen Bauteile - über die noch immer sehr wenig bekannt ist - wäre wünschenswert. So wird nicht klar genug erörtert, wo der Fortuna-Kult eigentlich stattfand, ob die Exedra wirklich als Theater oder nur als Freitreppe diente, welchen Zweck der bekrönende Rundbau erfüllte, beziehungsweise welche Vorstellungen in der frühen Neuzeit über diese Fragen herrschten. Fraglich ist auch, ob die Polygonmauern wirklich auf Delphi anspielen (20), wenn man an die monumentalen Akropolen im praenestinischen Hinterland (Ferentino, Alatri) denkt, deren Umfassungen ebenfalls aus polygonalen Quadern gefügt sind.

Nach einem Abschnitt über das weitere nachantike Schicksal des Ortes (34-46), der im Mittelalter zum Sitz einer Nebenlinie des weitverzweigten Adelsgeschlechts der Colonna wurde, wendet sich Merz der frühneuzeitlichen Wirkungsgeschichte zu. Am Anfang steht für ihn der Begründer der Renaissance-Architektur, Filippo Brunelleschi, doch erscheint dieser Bezug allzu gewollt: Die anonyme Zeichnung, die einen unbekannten Backsteinrundbau "a palestrina" zeigt, weist im Grunde keine strukturellen Analogien zu Santa Maria degli Angeli in Florenz auf, sodass sie kaum als Beleg für eine Anwesenheit des Florentiners gelten kann.

Es folgt eine kurzes Intermezzo über frühe antiquarische Studien zu Praeneste (47-53), dann kommt der erste und wohl bedeutendste Nachfolgebau überhaupt zur Sprache: Bramantes Belvedere-Hof im Vatikan (54-61). Auch wenn Palestrina nicht das einzige Vorbild war, so übernahm Bramante doch die kennzeichnenden Merkmale - Doppelrampe und Exedra. Die halbkreisförmige Stufenanlage wird von nun an eindeutig als Freitreppe interpretiert. Anders als bei der antiken Anlage, die einen entfernt stehenden Betrachter kaum berücksichtigt, sondern den Ausblick auf die Albaner Berge, die Campagna und das Meer in Szene setzt, wird bei Bramante das Belvedere selber zum "point de vue".

Viele der späteren, szenographisch terrassierten Gartenanlagen orientieren sich vermutlich eher an Bramante als am praenestinischen Urbild. Hier könnte sich ganz organisch das Kapitel über die "Villen mit terrassierten Gärten" (90-106) anschließen, das die bedeutendsten Villenprojekte des 16. Jahrhunderts mit Palestrina in Beziehung setzt und zeigt, dass Bramantes Lektion gelernt wurde. Merz gibt jedoch der Chronologie den Vorrang und widmet sich zunächst den beiden großen Antiquaren des 16. Jahrhunderts, Pirro Ligorio (62-68) und Andrea Palladio (69-83), die mit ihren Aufnahmen die Grundlage zur wissenschaftlichen Erforschung legten. Zugleich wird deutlich, wie ihre Rekonstruktionen Ausgangspunkte für fantastische Idealprojekte wurden.

Damit ist der Boden bereitet für den Angelpunkt des Buches, die Rekonstruktionen Cortonas unter der Ägide der Barberini (107-124). Um sich im weltlichen Adelsstand zu etablieren, benötigte die bürgerliche Nepotenfamilie ein Fürstentum. Durch die Heirat mit Anna Colonna (1627) gelangte Taddeo an die Herrschaft Palestrina. Um diese Erwerbung allegorisch zu überhöhen, ließ sein Bruder, der antiquarisch interessierte Kardinal Francesco Barberini, in der Folgezeit mehrere antike Villenbauten intensiv studieren. Doch wie so viele Projekte der Barberini blieben auch jene für Palestrina nach dem Tod Urbans VIII. unverwirklicht.

In seinen Zeichnungen versuchte Cortona, die szenographischen Aspekte der allzu weitläufigen Terrassenanlage hervorzuheben. Insbesondere in der perspektivischen Vogelschau gelang es ihm erstmalig, den Komplex als machtvolle Residenz darzustellen, der sich das gesamte umliegende Territorium unterwirft. Es sind vermutlich diese grafischen Darstellungen, von denen die weitere Wirkung Palestrinas ausgeht, und nicht das ein wenig kümmerliche Barberini-Schloss selber. So scheinen Fischer von Erlachs kühne Überschau-Kupfertafeln in der "Historischen Architektur" direkt von Cortona angeregt. Parallel zur Publikation der Stiche hielten die praenestinischen Erkennungsmerkmale Einzug in zahllose Prospekte, Bühnenbilder und Bauprojekte, wie Merz im folgenden Kapitel darlegt (125-143). Nun wurde in immer größerem Maßstab fantasiert, sodass zahlreiche Entwürfe bühnenhaft denkender Architekten wie Juvarra, Vanvitelli, Piranesi nur noch auf dem Papier zu realisieren waren.

Nach einem kurzen Exkurs über "Praeneste in England" (144-149) geht Merz über zu den Anfängen der archäologischen Erforschung im 18. und 19. Jahrhundert (150-166) und den Rekonstruktionsversuchen des 20. Jahrhunderts (167-186). Inzwischen konnten die Ruinen selber den interessierten Architekten nur noch wenig bieten, was nicht schon anderswo imposanter verwirklicht war, und den Vedutisten mangelte es anscheinend an malerischen Winkeln. Lediglich der Engländer George Hadfield vermochte um 1790, den Ruinen eine gewisse prosaische Erhabenheit abzugewinnen. Bezeichnenderweise widmete er sich vorwiegend den düsteren Gewölberäumen in den Substruktionen.

Im letzten Kapitel über "Nationaldenkmäler und andere Prestigeprojekte" (187-219) gelangt Merz zu dem vielleicht interessantesten Aspekt der Palestrina-Rezeption, der Rückbesinnung auf den sakralen Charakter der Hangterrassen, den man nun für verschiedene - meist politische - Zwecke zu instrumentalisieren suchte. Der Hauptmangel des Fortunaheiligtums, das Fehlen einer dominierenden Bekrönung, wurde zum gestalterischen Freiraum. Während die Rampen, Terrassen und Treppen in der Renaissance- und Barockzeit in erster Linie zur architektonischen Regulierung und Inszenierung des Terrains dienten, erhielten sie nun - zumindest anschaulich - ihre ursprüngliche Funktion als Prozessionswege zurück. So beurteilte Leo von Klenze das Walhalla-Projekt bei Donaustauf: "ohne solchen Unterbau [wie in Palestrina] würde es nur eine englische Gartenpartie und kein Monument werden".

Eine Zusammenfassung (220-224), ein Quellenanhang (225-229) und ein sorgfältig gearbeiteter wissenschaftlicher Apparat komplettieren das Buch. Man könnte darüber streiten, ob mit der chronologischen Anordnung die sinnvollste Gliederung gewählt wurde, um des umfangreichen Stoffes Herr zu werden. Die motivische Herleitung der einzelnen Denkmäler steht im Vordergrund, funktionale und ikonographische Fragen kommen etwas zu kurz. Schade ist auch, dass den architektonischen Einzelformen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. So fehlt ein Hinweis auf die einzigartigen, schräg verzogenen dorischen Kapitelle der die ansteigenden Rampen begleitenden Portiken, die auf die "Architectura obliqua" des Juan Caramuel de Lobkowitz und die geschmeidige Behandlung der Säulenordnungen in der Barockzeit vorausweisen. - Trotz einzelner Kritikpunkte bleibt aber die Leistung des Autors voll und ganz bestehen: Mit einer Fülle von hochinteressantem Material zeigt Merz am Beispiel Palestrina eindrucksvoll, wie die zerfallenen Monumente der Antike der europäischen Architektur der Neuzeit immer wieder neue Impulse zu geben vermochten.


Martin Raspe