Gudrun Petasch (Hg.): Le Livre du Consistoire. Konsistorienbuch der französisch-reformierten Kirche Neu-Isenburg 1706-1737 (1722-1731), 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl., Neu-Isenburg: edition momos 2002, 759 S., ISBN 978-3-930578-10-8, EUR 30,00
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Die Glaubensmigration im Europa des 16.-18. Jahrhunderts ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in das Blickfeld der geschichtswissenschaftlichen Forschung gerückt. Wichtige Quellen für diese Forschung sind Kirchenakten. Sie geben Auskunft über Alltagsleben, Glauben, Mentalität und Theologie der Migranten. Kirchenbücher, Verzeichnisse von Taufen, Trauungen und Bestattungen ermöglichen die Rekonstruktion der Gemeindekomposition, Konsistoriumsprotokolle die des Gemeindelebens.
Die Stadt Neu-Isenburg war von Franzosen reformierten Glaubens bewohnt, deren Mehrheit aus Anlass der "Révocation" des Edikts von Nantes als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren. Graf Johann Philipp von Isenburg und Büdingen hatte der Gemeinde 1699 in Privilegien die Besiedlung der Stadt sowie eine eigene Gerichtsbarkeit und den Bau einer eigenen Kirche zugestanden. Vermutlich 1702 wurde in Neu-Isenburg eine eigenständige Kirchengemeinde gegründet, nachdem der Landesherr erlaubt hatte, die Gemeinde im Sinne der französischen Kirchenordnung, der "Discipline ecclésiastique des Eglises Reformées de France", zu führen. Wer in den Ort ziehen wollte, musste sich der "Discipline ecclésiastique" unterwerfen und wurde in die französischsprachige Gemeinde eingegliedert.
Das Gemeindeleben ist in einem Konsistorienbuch dokumentiert. Hier finden sich Einträge zu Geldangelegenheiten, Abrechnungen von Armengeldern und Kollekten, Rechenschaftslegungen über Kommunionen und die zugehörigen Gemeindevisitationen sowie Aufnahmen von Katechumenen und von Erwachsenen, die um Eingliederung in die Gemeinde baten: Reformierte wie Lutheraner und ehemalige Katholiken. Ein Großteil der Eintragungen, besonders in den Jahren, in denen der dritte Neu-Isenburger Pfarrer, Abraham de Champ Renaud, die Gemeinde leitete, bezieht sich auf Konflikte innerhalb der Gemeinde und ihre Lösungen sowie auf Kirchenzuchtfälle. De Champ Renaud dokumentierte in dem Buch auch Wahlen und Entlassungen der Ältesten von 1722-1731. Das Konsistorienbuch vermittelt somit einen umfassenden Eindruck des Gemeindelebens der französisch-reformierten Kirche in Neu-Isenburg im Zeitraum von 1706 bis 1734.
Das Konsistorienbuch wurde 2002 in einer zweiten, erweiterten Auflage in deutscher Übersetzung von Gudrun Petasch herausgegeben. Es ist mit einer ausführlichen Einleitung durch die Herausgeberin versehen, in der die Objektive Hermeneutik "als ideales empirisches Verfahren zur sinnrekonstruktiven Erfassung historischer Bildungsprozesse" (40) vorgestellt. Das Konsistorienbuch mit eben dieser Methode beschrieben und in seinen historischen und soziologischen Kontext eingeordnet wird. Des Weiteren enthält die Edition mehrere Seiten Faksimiledrucke des Konsistorienbuchs, zwei Karten, ein Orts- und Personenregister, eine Ältestenliste der Gemeinde für die Jahre 1702-1731, die Petasch und Martina Groh rekonstruiert haben, ein Glossar und, besonders interessant, ein Transkript des Privilegs der Gemeinde Neu-Isenburg in Deutsch und Französisch sowie eine Transkription und Übersetzung der Urkunde "Concessions de S.E.I. le Comte", in welcher der Landesherr 1701 die Gründung einer eigenständigen Kirchengemeinde Neu-Isenburg zugestand.
Besonders erfreulich ist, dass Petasch nicht nur die Übersetzung herausgegeben hat, sondern dass sie auch den französischen Originaltext transkribiert und rekonstruiert hat. Dieser ist über die Homepage der Stadt Neu-Isenburg zugänglich. Hiermit wird der Forschung ein wichtiges Dokument aus den ersten Jahrzehnten des Bestehens dieser hugenottischen Gemeinde verfügbar gemacht.
In der doppelten Veröffentlichung des Textes spiegelt sich eines der Hauptanliegen der Herausgeberin und ihrer Auftraggeberin, der Stadt Neu-Isenburg: Der Band wendet sich sowohl an die "ortsansässige Bevölkerung", "Hugenottenforscher, Heimatforscher und Genealogen" als auch an die "breite wissenschaftliche Öffentlichkeit von Juristen, Theologen, Historikern, Romanisten, Soziologen etc." (74), also an zwei verschiedene Zielgruppen. Damit gliedern sich die dem Konsistorienbuch beigegebenen Teile in Stücke, die Wissenschaftler ansprechen sollen, und solche, die für Laien geschrieben sind. Die einleitenden Bemerkungen zur Objektiven Hermeneutik zum Beispiel sind explizit an Wissenschaftler gerichtet (35), während das Glossar ebenso explizit keine wissenschaftlichen Ansprüche zu erfüllen, sondern "dem interessierten Laien das Verständnis dieses einen Textes zu erleichtern" sucht (699).
Dies ist Stärke wie Schwäche des Buches in einem: Einerseits wird eine Brücke zwischen Wissenschaftlern und "interessierten Laien" geschlagen, andererseits genügt der Band eben nicht immer wissenschaftlichen Ansprüchen. So werden in dem Glossar - und das ist unabhängig vom wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Anliegen - viele Begriffe so knapp erklärt, dass sie in dieser Kürze nicht mehr richtig sind. Als Beispiel sei die Definition von "Sekte" als "Freiwilligenkirche" genannt (723). Doch nicht jede Freiwilligenkirche ist eine Sekte. Um zu einer Sekte zu werden, muss eine Glaubensgemeinschaft mehr Kriterien als nur das der Freiwilligkeit erfüllen, zum Beispiel Sonderlehren^, und einen Absolutheitsanspruch vertreten.
Eine weitere Ambivalenz folgt aus der Anwendung der Objektiven Hermeneutik auf den Übersetzungsvorgang: Um keine eigenen Urteile einzubringen, übersetzt Petasch sehr textnah. Dadurch gibt die Übersetzung in der Tat den Leseeindruck des Originaltextes wieder. Gleichzeitig aber wird der Text schwer verständlich, und an manchen Stellen ist die Übersetzung schief. So heißt die deutsche Übersetzung von "a de jeunes personnes du sexe" (Transkription, 293) in der Übersetzung "gegenüber jungen Personen des [weiblichen] Geschlechts" (539), ohne zu berücksichtigen, dass "le sexe" immer Frauen meint und die Übersetzung mit dem von der Herausgeberin beigefügten "weiblichen" den Satz viel unverständlicher macht als eine einfache Übersetzung mit "gegenüber jungen Mädchen".
Schlimmer als diese Umständlichkeiten sind jedoch Übersetzungen, die inhaltliche Verschiebungen mit sich bringen. Wenn "exercice" mit "Exerzitien" übersetzt wird (418), kommen Konnotationen ins Spiel, die die französisch-reformierte Gemeinde Anfang des 18. Jahrhunderts unmöglich gemeint haben kann. Im Kontext des Eintrags wird deutlich, dass die "exercices", von denen der Pfarrer spricht, die Übungen des täglichen Gottesdienstes und der Andacht sind. Der Terminus Exerzitien jedoch bezeichnet spezielle, aus der katholischen Tradition kommende Frömmigkeitsübungen. Im Glossar wird diese - richtige - Definition unverbunden neben die Erläuterung gestellt, dass im Konsistorienbuch "Exerzitien" "Gottesdienste" meinten (703 f.), wodurch der gesamte Eintrag schief wird.
Trotz dieser vereinzelten Schwächen in der Übersetzung und im Glossar ist die Edition ein wichtiges Werk, das für Forschung wie Öffentlichkeit gleichermaßen von großem Interesse ist. Ein wichtiges Dokument aus der Geschichte der Hugenotten in Deutschland ist so gut zugänglich gemacht. Die Relevanz der Edition spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass nur vier Jahre nach der Erstausgabe der Edition eine Neuauflage von Nöten war. Auch die Bedeutung des Anhangs ist nicht zu unterschätzen: Die Beigabe der Privilegien und der "Concessions" ist besonders für Sozial- und Rechtshistoriker von großem Wert, und das Personen- und Ortsregister vereinfachen Genealogen die Forschung wesentlich. Mit Spannung kann die Edition ergänzender Dokumente aus demselben Zeitraum, die als zweiter Band in Bearbeitung ist, erwartet werden.
Judith Becker