Martin Schulze Wessel / Jörg Requate (Hgg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2002, 328 S., ISBN 978-3-593-37043-9, EUR 37,90
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Der anzuzeigende Band geht auf eine Konferenz "Europäische Öffentlichkeit. Realität und Imagination einer Appellationsinstanz" zurück. Sie fand im Dezember 1999 im "Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas" in Leipzig statt. Die Organisatoren der Tagung fragten nach den konstruktiven und somit wandelbaren Eigenschaften des Europabegriffs und der daraus folgenden Offenheit des Begriffs der europäischen Öffentlichkeit, der nach ihrer Ansicht nur in historischer Perspektive genauer zu bestimmen sei. Hierbei werden Europa und seine Öffentlichkeit als etwas eher Vorgestelltes denn konkret Fassbares verstanden, eine Appellationsinstanz, von der man Solidarisierungseffekte für spezifische Anliegen erwartet. Im Zentrum der Beiträge steht jeweils die Frage nach der kommunikativen Herstellung Europas.
Die insgesamt dreizehn Beiträge sind zwei Themenkomplexen zugeordnet, "Appelle nationaler und religiöser Gruppen an eine europäische Öffentlichkeit" und "europäische Öffentlichkeit in Kriegen und revolutionären Umbrüchen". Die erste Abteilung wird durch einen Beitrag von François Guesnet eröffnet. Er berichtet über den Strukturwandel im Gebrauch der Öffentlichkeit in der politischen Praxis jüdischer Gemeinschaften in Europa zwischen 1744 und 1881. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis der jüdischen Gemeinschaften zur Appellationsinstanz Europa weder besonders herzlich noch innig war. Um 1900 versagte diese Appellationsinstanz mit der Zunahme des Antisemitismus in ganz Europa, da dieser Teil der so genannten "zivilisierten Welt" war.
Martin Schulze Wessel untersucht die "grenzüberschreitende Kommunikation und die politische Geographie Ostmitteleuropas im 18. Jahrhundert" an zwei Beispielen religiöser Intoleranz, dem "Thorner Blutgericht" von 1724 und der später zurückgenommenen Ausweisung der Juden aus Prag 1744. Die angebliche Unterdrückung der Protestanten in Thorn fand ihren Niederschlag in über 165 Flugschriften und hunderten von Zeitungsartikeln besonders im protestantischen Europa, wobei Berlin eine wichtige Vermittlerfunktion zukam. Preußen versuchte die religionsverwandte Minderheit in Polen wie später in Schlesien für einen Anschluss der betroffenen Gebiete zu instrumentalisieren. Eine Folge der Publizität war, dass selbst England in der Thorner Angelegenheit einen Sondergesandten an den deutschen Reichstag und an den Warschauer Hof entsandte, dessen dortige Vorträge wieder publiziert wurden. Eine nicht unwesentliche Intention dieser Gesandtschaft war es, den antikatholischen Konsens zwischen der welfischen Dynastie und der Gesellschaft Großbritanniens zu bekräftigen. Infolge der Ereignisse in Thorn verfinsterte sich das Bild Polens in Europa für lange Zeit. Noch bei der Teilung Polens prangerte Voltaire mit Bezug auf die Vorkommnisse von 1724/25 die religiöse Intoleranz der Polen an und verherrlichte die russische Armee als Trägerin der Zivilisierung Polens. Der Protest der aus Prag ausgewiesenen Juden fand weniger im Gedruckten Niederschlag. Die Prager Juden schrieben Briefe an Personen mit privilegiertem Zugang zu Fürsten im Reich und Europa. Mehrfach gelang es, die Standesgenossen Maria Theresias zu bewegen, auf die Herrscherin einzuwirken und ihr die nachteiligen Folgen der Maßnahme vorzustellen.
Michael Berkowitz aus London behandelt in seinem Beitrag die Schaffung einer jüdischen Öffentlichkeit am Beispiel Theodor Herzls und des Baseler Kongresses von 1897. Er orientiert sich dabei noch immer an Habermas' Konzept vom Strukturwandel der Öffentlichkeit.
Unter dem Aspekt der europäischen Öffentlichkeit betrachtet Eberhard Demm die Zusammenkünfte der "Union des Nationalités" in Paris sowie Lausanne 1911 und 1919. Am Beispiel Litauens zeigt er, dass mit der nationalen Unabhängigkeit und dem Aufbau eines nationalen Kommunikationsrahmens Exilpolitiker schnell ihren früheren Einfluss verloren. Ein verwandtes Thema behandelt Frank Hadler, nämlich die Kommunikationsformen der tschechoslowakischen Auslandsaktionen während des Ersten Weltkrieges. Deutlich stellt er die Bedeutung von Karten als visuelles Kommunikationsmittel und Visualisierung von Intentionen heraus.
Xosé-Manuel Núnez thematisiert Nationalitätenprobleme und europäische Öffentlichkeit zwischen den Weltkriegen, also die komplexe Interaktion zwischen Nationalismus und Europäismus. Das Konzept eines "Europa der Nationalitäten" oder eines "Europa der Völker" geht letztlich auf die Epoche der liberalen Revolutionen um 1848 zurück. Aber spätestens in der Zwischenkriegszeit stellte sich der Versuch der Praxis allzu oft als gelebtes Oxymoron heraus. Immer wieder wurde deutlich, "dass die Ausübung von Demokratie in ethnisch homogenen Räumen einfacher" war. Die Ausführungen berühren jene von Eberhard Demm. In engem Zusammenhang damit steht auch der Aufsatz von Sabine Bamberger-Stemm: "'Solidarität der Nationalitäten' oder 'Förderung des europäischen Friedens'? Zur Publizistik nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit". Auch sie betont, dass die Ideen des Wilsonismus, des 14 Punkte-Programms und insbesondere des "self-government" nicht selten mit der "Idee einer 'Entmischung' verschiedennationaler Bevölkerungsgruppen" einhergingen. Konzepte personaler Autonomie waren offenbar weniger attraktiv. Besonders die weitgehende Entdemokratisierung Europas vernichtete in den 1930er-Jahren jegliche Perspektive für eine auf demokratischen Grundlagen aufgebaute Minderheitensolidarität.
Den zweiten Teil des Bandes "Europäische Öffentlichkeit in Kriegen und revolutionären Umbrüchen" leitet Hans-Christian Maner mit einem interessanten Beitrag über die rumänischen Revolutionäre von 1848 und ihre Appellversuche an Europa ein. Sie setzten die Konstruktion der Romanität gegen die verbreitete Wahrnehmung des südöstlichen Teils des Kontinents als "türkisches Europa" und gegen das russische Protektorat ein. Die türkischen Verantwortlichen reagierten sehr empfindlich auf ihr Bild in der europäischen Öffentlichkeit.
Inhaltlich verwandt behandelt Thomas Scheffler den "Funktionswandel 'orientalischer' Gewalt in europäischen Öffentlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts". Sein Fazit erscheint gerade vor dem Hintergrund aktueller Debatten so wichtig, dass zumindest der Schluss vollständig zitiert werden soll: "Es bleibt abzuwarten, welchen Einfluss das politische Geschehen im Nahen und Mittleren Osten auf solche kulturessentialistischen Vorstellungen haben werden. Die unterschiedlichen Bewertungen 'orientalischer' Gewalt in europäischen Öffentlichkeiten, das zeigt jedenfalls [Schefflers, W. B.] kurzer Überblick, folgten keineswegs kulturessentialistischen Konstanten. Sie sind seit Jahrhunderten vor allem vom Rhythmus rasch wechselnder realpolitischer Konstellationen und Interessen geprägt."
Stefan Troebst fragt nach der Bedeutung der Ressource Weltöffentlichkeit für nationalrevolutionäre Bewegungen auf dem Balkan von den Fanarioten bis zur UCK. Er bezeichnet das separatistische Spiel über die internationale Bande als typisch für die Region vom Beginn des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.
Sören Brinkmann stellt die unterschiedlichen Bilder des spanischen Bürgerkrieges in den verschiedenen europäischen Öffentlichkeiten vor. Wie kein Krieg zuvor wurde der spanische Bürgerkrieg in Bildern vermittelt. Damit verbunden war eine neue Dimension der Manipulation. Hörfunktexte, Fotografien und Filmmaterial der gegnerischen Seite wurden wiederholt, mit neuem Kommentar versehen, der eigenen Propaganda dienstbar gemacht.
Sehr lesenswert ist der Beitrag von Michael A. Schmidtke: "'1968' und die Massenmedien - Momente europäischer Öffentlichkeit". Das Fernsehen verlieh der transnationalen Öffentlichkeit eine neue Dimension und Qualität. Gleichzeitig zerfiel, nach Habermas, die klassische bürgerliche Öffentlichkeit. Gegenöffentlichkeiten konstituierten sich mit unterschiedlichem Erfolg. Obwohl die Protestbewegungen des Jahres 1968 "ein weltweites Phänomen darstellten", gab es zwischen den Aktionisten des Prager Frühlings und den Vertretern der neuen Linken der westlichen Welt erhebliche Kommunikationsbarrieren. Es war die Erkenntnis dieser Differenz und weniger der Rückgriff auf eine abstrakte und letztlich doch nationale Appellationsinstanz Europa, welche die europäische Öffentlichkeit ausmachte. Der kurze Rausch internationaler Solidarität verflog schnell, und mancher war um eine Differenzerfahrung reicher.
Jörg Requate und Matthias Vollert reflektieren gemeinsam die Diskussion des "Jugoslawienkonfliktes" in Deutschland und Frankreich von 1990 bis 1996: "Die Lieben und die Bösen". Das hoffnungsvolle Diktum des luxemburgischen Außenministers Jacques Poos "c'est l'heure de l'Europe, pas celle des Américains" vom 1. Juli 1991 wurde bald von der Realität widerlegt: Deutsche und Franzosen fanden keine gemeinsame Sprache, bis sie sich in Ratlosigkeit einander näherten und Amerika eingriff.
Durch die gemeinsame Orientierung der Beiträge an der eingangs geschilderten Fragestellung nach den konstruktiven und somit wandelbaren Eigenschaften des Europabegriffs und der daraus folgenden Offenheit des Begriffs der europäischen Öffentlichkeit ist der Band trotz des breiten Themenspektrums insgesamt sehr kohärent. Besonders benutzerfreundlich ist, dass alle Kontribuenten ihre wesentlichen Aspekte in einem Fazit konzentrieren. Überaus empfehlenswert ist die gemeinsame Einführung von Jörg Requate und Martin Schulze Wessel, fast der Nukleus einer kleinen Enzyklopädie der europäischen Öffentlichkeit.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die Vorstellung einer homogenen europäischen Öffentlichkeit, auch wenn sie nur aus Intellektuellen bestünde, im Zusammenspiel pluralistischer Gesellschaften illusionär erscheint. Eine funktionierende Öffentlichkeit ist durch die Gegensätze auf und zwischen den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten angewiesen.
Wolfgang Burgdorf