Ulrich Rehm: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 106), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 439 S., 147 Abb., ISBN 978-3-422-06398-3, EUR 68,00
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Man braucht einen langen Atem bei der Lektüre des Buches, bis man erfährt, worum es dem Autor überhaupt geht. Dies hängt damit zusammen, dass sich Rehm in der publizierten Fassung seiner von der Philosophischen Fakultät in Bonn angenommenen Habilitationsschrift (2001) wohl bewusst vom schematischen Aufbau wissenschaftlicher Texte absetzen wollte. Kurzum, die Einleitung mit Reflexionen zur Methode, der Formulierung zentraler Thesen und einer kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zum Thema findet sich erst zu Beginn des zweiten Teils seiner umfangreichen Studie, die in zwei große Abschnitte gegliedert ist: Dem "Beitrag der Texte" folgt der "Beitrag der Bilder". Erst hier (198!) erfährt der Leser Genaueres zur grundlegenden These, die im Titel des Buches anklingt: Es geht um den Nachweis, dass Gestik als ein "selbstständiges Mittel [neuzeitlicher] Bilderzählung [aufzufassen sei], das gleichwohl mit verschiedensten Bezügen zu außerbildlichen Codes operiert, die es im Einzelfall zu klären gilt [...]."
Methodisch orientiert sich Rehm hierbei am Interpretationsmodell Panofskys, das als "Bestandteil eines semiotischen Interpretationsverfahrens" (202) verstanden und mit Blick auf den Zeichenstatus der Geste einer kritischen Revision unterzogen wird. Anders als dies Panofsky durch die Wahl seines einführenden Beispiels - das Hutziehen als Geste des Grüßens - nahe gelegt hat, betont Rehm nämlich zurecht, dass die Geste im Bild bereits als Motiv aufzufassen sei, für dessen Verständnis die in unserer alltäglichen Lebenswelt gemachte Erfahrung eben nicht ausreiche. Auch die Forschungsergebnisse einer historisch operierenden Anthropologie oder Soziologie erklären die bildlich dargestellte Gestik nur bedingt, weil das Zeichensystem der Kunst und speziell die Gattung neuzeitlicher Bilderzählung schließlich eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Denn im Unterschied zu Rhetorik und Schauspiel ergänzt Gestik in Malerei und Skulptur nicht die gesprochene Sprache, sondern wird zu ihrem Ersatz. Darin ist "die stumme Sprache der Bilder" der Taubstummensprache vergleichbar, die den Künstlern seit Leonardo wohl aus diesem Grund immer wieder als Vorbild galt. Auch religiöser Ritus, höfisches Benehmen und Zeremoniell müssen dementsprechend bei einer kunsthistorischen Lektüre der Gesten berücksichtigt werden. Ausreichend für ein Verständnis bildlich dargestellter Gesten sind diese "außerbildlichen Codes" allerdings nicht. Als Königsweg der Bildinterpretation gilt Rehm deshalb das "innerbildliche" Verfahren ikonographischer Typengeschichte. Dass es neben der Herausbildung allgemein gültiger Typen unterschiedlicher Gesten auch zu Transformationen und sogar Inversionen derselben kommen kann, versteht sich. Erschwerend kommt noch hinzu, dass bildlich dargestellte Gestik zu den "Codes der Konnotation" (199) gehört und somit für ihr Verständnis stets der gesamte spezifische Kontext herangezogen werden muss. Dies hat zur Folge, dass eben kein verbindlicher Katalog unterschiedlicher Gesten und ihrer jeweiligen Bedeutung erstellt, sondern letztlich nur exemplarisch am einzelnen Bild gezeigt werden kann, welche Bedeutung der einzelnen Geste im Kontext der Bilderzählung und im jeweils neu zu eruierenden Zusammenhang außerbildlicher Quellen zukommt.
Ausgehend von diesen methodischen Prämissen wird erst der Stellenwert des ersten Abschnitts des Buches deutlich. Wie auch die exemplarischen Bildinterpretationen am Ende des Buches zeigen, kann auf den "Beitrag der Texte" trotz aller berechtigten Vorbehalte nicht verzichtet werden. Da Rehm jedoch von Anfang an eine leitende Fragestellung vermissen lässt, bleibt nicht nur der argumentative Zusammenhang der beiden großen Teile der Arbeit letztlich diffus. Auch der Abfolge der einzelnen Kapitel mangelt es stellenweise an Stringenz. Orientierung bietet der Autor am Beginn seines Buches aber insofern, als er zunächst den historischen Rahmen seiner Studie absteckt. Gegenstand seiner Untersuchung ist die Bilderzählung, das Konzept der "historia" als "vorherrschendes Paradigma angewandter Gestik in der bildenden Kunst" (31) wie es sich seit Giotto herausgebildet hat und seit Alberti in der Kunstliteratur reflektiert wurde. Bestand hatte dieses Paradigma bekanntlich bis ins 18. Jahrhundert, als mit dem Aufkommen einer zunächst im Begriff des Genies verankerten Autonomieästhetik das rhetorisch und poetisch fundierte Regelwerk des Historienbildes zunehmend außer Kraft gesetzt wurde. Der historische Bogen ist also weit gespannt und die Auswahl der vorgestellten Texte wird methodisch nicht eigens reflektiert. Der Hinweis darauf, dass nur "die markantesten Spuren dieser Tradition" verfolgt werden können und dabei "jeweils unterschiedliche Kultur- und Sprachräume im Zentrum des Interesses erscheinen" (33), muss genügen. Rehm demonstriert in diesem Kapitel seine breite Kenntnis unterschiedlichster Quellentexte und setzt berechtigte Akzente bei der Rhetorik Quintilians und ihrer Rezeption in der frühen Neuzeit, der Kunsttheorie Albertis, der Vorlesung von Le Brun über die Mannalese Poussins, Shaftesburys philosophischen Reflexionen über Herkules am Scheidewege und der von Winckelmann, Lessing und Goethe geführten Debatte über Laokoon. Dass bei der Fülle der angesprochenen Texte auch die einschlägigen Traktate zur Gestik von Bonifacio und Bulwer nicht fehlen, ist selbstverständlich. Scheint bei diesem historischen Abriss vor allem die "Erfindung einer bürgerlichen Gestik" im 18. Jahrhundert den Fokus zu bilden, bleibt Rehm doch auch hier dem Leser sein Erkenntnisinteresse schuldig und äußert sich kaum zur unterschiedlichen Valenz der behandelten Texte, die schließlich ganz verschiedenen Gattungen und Diskursen entstammen. Auch bleibt die Definition dessen, was eigentlich unter dem Begriff "Geste" zu verstehen sei, letztlich ungeklärt. Ist die Geste auf die Bewegung der Hand und Finger zu beschränken, oder muss der Begriff auf Körperhaltung, Bewegung und Mimik ausgedehnt werden, wie dies die behandelten Texte zum Teil suggerieren?
Nachdem Rehm in seinen methodologischen Einführungen zum zweiten Abschnitt seiner Arbeit - "Der Beitrag der Bilder" - deutlich gemacht hat, dass Gesten nur im Kontext der jeweiligen Bilderzählung Sinn machen, unterscheidet er im Folgenden mehrere "Aussageabsichten", die für Historienbilder generell relevant seien. Dieser Begriff ist sicherlich nicht ganz glücklich gewählt. Rehm meint damit aber letztlich die unterschiedlichen Bedeutungsebenen, auf die Gesten als Zeichen verweisen können. So können Gesten im Sinne einer "konventionalen Kommunikation" aufgefasst werden, wenn sie auf kodifizierte Formen gesellschaftlichen Verhaltens und speziell auf religiöses Ritual oder höfisches Zeremoniell verweisen. Gesten können aber auch Zeichen eines emotionalen "Ausdrucks" sein oder im Sinne der "Physiognomik" auf einen bestimmten Charakter verweisen. Wie Rehm in seinen methodologischen Reflexionen herausgestellt hat, können Gesten ihre Bedeutung durch eine "Anspielung" auf andere berühmte Kunstwerke, meist Antiken, gewinnen. Schließlich können Gesten den Zeichenstatus einer Allegorie ("Attribut") annehmen und somit auf abstrakte Begriffe verweisen.
Ausgerüstet mit diesem begrifflichen Instrumentarium, das zuvor bereits durch viele Bildbeispiele geschärft worden ist, widmet sich Rehm abschließend der ausführlichen Analyse von drei Bildern. Dazu gehören die prominenten Beispiele der Primavera von Botticelli und der Schule von Athen von Raffael, die ein weniger bekanntes Werk flankieren: Philemon und Baucis von Bramantino. Rehm geht es bei allen drei Interpretationen vor allem darum, die Mehrdeutigkeit der Gesten herauszuarbeiten, "die verschiedenen Mitteilungsebenen entsprechen und das Verständnis der Bildaussage erweitern oder vertiefen können" (289). Diese Beobachtung ist für das Verständnis der Bilder zentral und führt zu interessanten Ergebnissen. Welcher Stellenwert ihr aber im Kontext der gesamten Arbeit zukommt, deren erster Abschnitt schließlich den Bogen bis zu "Erfindung einer bürgerlichen Gestik" im 18. Jahrhundert spannte, bleibt fraglich.
Gerald Schröder