Steffen Siegel: Ich ist zwei andere. Jeff Walls Diptychon aus Bildern und Texten (= Morphomata Lectures Cologne; 9), München: Wilhelm Fink 2014, 59 S., 9 Farbabb., ISBN 978-3-7705-5664-9, EUR 14,90
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Bei der Publikation von Steffen Siegel über den Kanadischen Fotografen Jeff Wall handelt es sich um einen Aufsatz, der als Band 9 der Reihe Morphomata Lectures Cologne erschienen ist. Er bildet den Ertrag eines einjährigen Forschungsaufenthaltes als Fellow am Internationalen Kolleg Morphomata, das an der Universität Köln angesiedelt ist. Der griechische Titel deutet die besondere Programmatik des Forschungskollegs an, das vor allem die ästhetischen "Ausformungen" des kulturellen Wissens untersuchen möchte: "Mit unseren Fellows untersuchen wir damit Figurationen, die begrifflicher Festlegung entzogen sind und analysieren ihre Entstehung und Eigendynamik, ihre jeweilige Materialität und unterschiedlichen Diskursivierungen." [1] Steffen Siegel folgt dieser konzeptuellen Vorgabe, wenn er nach der diskursiven Rahmung der Fotografien von Jeff Wall fragt und dabei das Verhältnis der visuellen Artefakte und der begrifflichen Äußerungen des Künstlers als methodisches Problem der Kunstwissenschaft im Blick hat. Auf dieses problematische Verhältnis spielt auch der Titel des Aufsatzes an: "Jeff Walls Diptychon aus Bildern und Texten". In Anspielung auf das berühmte Diktum von Arthur Rimbaud - "je est un autre" - sollen die beiden unterschiedlichen Strategien der Generierung von Bedeutung unterstrichen werden, die Jeff Wall durch seine doppelte bzw. "gespaltene" Profession als bildender Künstler sowie als Kunsthistoriker verfolgt.
Es geht Steffen Siegel in seinem Aufsatz also weniger um die Analyse und Interpretation bestimmter Fotografien von Wall, selbst wenn die Betrachtung der frühen Arbeit "Double Self-Portrait" von 1979 den roten Faden für seine Argumentation bildet. Seine Überlegungen sind stattdessen auf einer Metaebene angesiedelt und untersuchen ein durchaus bekanntes Methodenproblem der Kunstwissenschaft: Wie sollen wir mit den Selbstaussagen und Kommentaren der Künstlerinnen und Künstler umgehen? Welche Relevanz besitzen sie für die kunstwissenschaftliche Deutung ihres künstlerischen Œuvres? Geben sie Auskunft über die im Werk selbst verborgene Intention? Und wenn dem so ist, welchen Stellenwert räumen wir dieser vermeintlich intentionalen Deutung im Vergleich zu anderen möglichen Interpretationen ein? Dass dieses Methodenproblem im Werk von Jeff Wall in besonders markanter Weise zum Tragen komme, hängt für Siegel damit zusammen, dass der Künstler sich nicht nur in Interviews zu seinem Werk äußere, sondern darüber hinaus auch als Kunstkritiker tätig geworden sei. Jeff Wall stelle den besonderen Fall eines Künstlers dar, der zunächst ein Studium der Kunstgeschichte absolviert hat und erst über seine theoretische und historische Beschäftigung mit der Kunst zur künstlerischen Praxis der Fotografie gekommen ist. Gerade in seinen kunstkritischen Texten beispielsweise über Dan Graham oder Rodney Graham habe Jeff Wall implizit die Strategie verfolgt, auch für sein eigenes Werk die entscheidenden diskursiven Rahmungen zu setzen, die stets mit einer kunsthistorischen Positionierung verbunden sind. Was die Reflexion des Kunstbegriffs anbelangt, schließt Jeff Wall demnach einerseits an Fragestellungen der Conceptual Art an. Was die künstlerische Aufwertung des Mediums Fotografie zum inszenierten Tableau mit vielfältigen Referenzen auf die Geschichte der Malerei anbelangt, distanziere er sich andererseits von den Vorgaben der Conceptual Art, die das technische Medium in bewusster Anlehnung an die Amateurfotografie verwendet hat. Indem Jeff Wall seinen als Leuchtkasten gestalteten Fotografien seit den späten 1970er-Jahren eine besondere Aura verleiht, die vormals dem Original eines Gemäldes vorbehalten war, situiert er sich im zeitgleich geführten fotografischen Diskurs der Postmoderne beziehungsweise im postmodernen Diskurs der Fotografie.
Gerade weil im Diskurs der Postmoderne auch die von Gadamer sowie von Duchamp, Barthes und Eco vorbereitete Infragestellung des modernen Autorkonzepts breit diskutiert worden ist, überrascht es Siegel umso mehr, dass Wall als theoretisch versierter Künstler das eigentlich obsolet gewordene Privileg seiner Autorschaft verteidigen möchte: "Warum aber dann, so wird man sich doch fragen müssen, nimmt ein Künstler wie Jeff Wall diese enorme, inzwischen über Jahrzehnte kontinuierlich betriebene Arbeit expliziter Bedeutungsproduktion überhaupt auf sich? [...] Will der Fotograf die längst vollzogene Dekonstruktion der Kategorie 'Künstlerintention' einfach nicht wahrhaben?" (15) Die Antwort, die Siegel darauf gibt, knüpft an die Überlegungen von Felix Thürlemann an, der sich schon Mitte der 1980er-Jahre mit vergleichbaren Methodenproblemen für die Kunstwissenschaft beschäftigt hat. [2] So stellt Siegel völlig zu Recht heraus, dass die Texte von Wall nicht nur Interpretationsansätze für seine Bilder liefern, sondern selbst interpretationsbedürftig sind. Demnach gehören auch die Texte von Wall zu seinem künstlerischen Œuvre und formieren zusammen mit den Bildern "ein diskursives Dispositiv" (27), das durchaus im Sinne von Michel Foucault als ein Dispositiv der Macht verstanden werden kann, weil es im agonistisch geführten "Diskurswettbewerb" (32) der Interpreten als eine "Strategie der Betrachterlenkung" (31) fungiere.
Die Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen die hier vollzogene kritische Reflexion des künstlerischen Œuvres als Dispositiv für die weitere Deutung der Arbeiten von Wall besitzt, bleibt Siegel in seinem brillant formulierten Aufsatz letztlich schuldig. Es bleibt bei dem vagen Appell, dass "[k]unsthistorische Hermeneutik [mehr sein] will und soll [...] als bloße Affirmation des bereits durch den Künstler Gesagten." (37) Dass die Selbstkommentare des Künstlers durch Quellenkritik "einer besonderen Prüfung" (37) unterzogen werden sollten, gehört spätestens seit Thürlemann zum kunstwissenschaftlichen Ethos, wenngleich dies nicht immer gebührend befolgt wird. Der letzte Satz seines Textes ist zwar in seinem aufmunternden Ton sympathisch, bringt jedoch ein gewisses Manko zum Ausdruck: "Dann kann unsere Arbeit - an den Bildern und an den Texten - ja beginnen." (40) Wie müsste diese Arbeit nun aber konkret aussehen? Wie könnten Interpretationsansätze aussehen, die sich nicht nach Walls Strategien der Betrachterlenkung richten? Wann hat sich Jeff Wall in welchen Textgattungen wie über sein Werk geäußert? Wie wurden diese Äußerungen von der Kunstkritik und Kunstwissenschaft aufgegriffen? Bleiben die Referenzen zur Malerei sowie die mediale Selbstreflexion der Fotografie nicht zentrale Themen für eine schlüssige Deutung und Analyse, auch wenn Jeff Wall selbst in seinen schriftlichen Äußerungen diese Interpretationsansätze favorisiert?
Zu Recht verweist Siegel darauf, dass die Kunstwissenschaft den Fokus ihrer Aufmerksamkeit bislang nur auf eine bestimmte Auswahl der Arbeiten von Wall gerichtet hat und somit viele seiner Fotografien noch kaum Beachtung fanden. Dies gilt auch für Walls "Double Self-Portrait". Dabei inszeniert sich Wall auf diesem Foto in seiner doppelten Rolle als Fotograf, der den Betrachter direkt anschaut, im Vordergrund des Bildes mit forsch ausgestelltem Ellenbogen und als Kunsthistoriker mit vor der Brust verschränkten Armen, der sein Alter Ego aus dem Hintergrund betrachtet. Wesentliche Aspekte lässt Siegel allerdings außer Acht. So bleiben bei dieser Deutung die beiden Sitzmöbel, die den Figuren zugeordnet sind, unbeachtet. Vor allem der runde Metallsitz, der durch die leichte Seitenansicht ins Oval verschoben ist, fällt durch seinen hellen Glanz und seine zentrale Stellung ins Auge. Wall scheint dem Betrachter hier einen festen Platz anzubieten. Die runde Form des Sitzmöbels reflektiert die Form der Kameralinse und die Gitterstruktur des Metallstuhls spielt auf das Raster der Perspektivkonstruktion in der Malerei an, die die historische Voraussetzung für die Raumkonstruktion der Fotografie bildet. Der hinteren Figur ist eine Couch mit zurückgeschlagener Decke zugeordnet. Dadurch kann die Reflexionsfigur im Hintergrund als Psychoanalytiker spezifiziert werden. Und in der Tat lässt die Spiegelung der beiden Figuren im Bild an Lacans Spiegelstadium denken. Durch das dominierende silbergraue Kolorit des Farbfotos erinnert die Oberfläche des Bildes selbst an einen Spiegel. In diesem erscheint kein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine fiktive Szene, deren technisch manipulierter Charakter durch die Verdoppelung der Figur offensichtlich ist. Die Zentralperspektive, die Erwin Panofsky mit der Konstitution des Individuums in Verbindung gebracht hat, dient auf diesem Foto nicht der Zentrierung und Selbstvergewisserung des Subjekts, sondern führt zu einer irritierenden Dezentrierung und Spaltung. Zusätzlich weckt die Komposition des Fotos die Assoziation an ein berühmtes Gemälde, "Die Gesandten" von Hans Holbein, mit dem sich wiederum Lacan ausführlich beschäftigt hat. Dabei interessierte ihn besonders die Anamorphose des Totenschädels im Vordergrund, auf die Wall mit der verzogenen Form des kreisrunden Sitzmöbels anspielt. Indem die Reflexionsfigur der Kameralinse mit dem Bild eines Memento mori verknüpft wird, reflektiert das Foto die besondere Zeitstruktur des Mediums Fotografie, die immer einen Moment der Vergangenheit darstellt.
Die hier nur skizzierte alternative Interpretation des Fotos macht deutlich, dass Texte und Bilder im Werk von Jeff Wall eng miteinander verzahnt sind, sodass die von Steffen Siegel gewählte Metapher vom "Diptychon aus Bildern und Texten" vielleicht doch nicht ganz treffend ist. Bei Jeff Wall steht der Kunsthistoriker zwar neben dem Fotografen, aber beide sind zugleich im Bild.
Anmerkungen:
[1] http://www.ik-morphomata.uni-koeln.de.
[2] Felix Thürlemann: Kandinsky über Kandinsky. Der Künstler als Interpret eigener Werke, Bern 1986.
Gerald Schröder