Ansgar Steinhausen: Die Architektur des Klassizismus im Elsaß. Zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Frankreich zwischen 1760 und 1800 (= Studien zur Kunst am Oberrhein; Bd. 2), Münster: Waxmann 2003, 163 S., 84 Abb., ISBN 978-3-8309-1076-3, EUR 34,80
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Für fast alle Epochen der Kunst- und Architekturgeschichte gilt, dass sich die Ausbreitung eines Stils von den politischen Zentren in die Provinzen vollzog. Mögen hier auch Gegenbeispiele die umgekehrte Richtung nahe legen - man denke etwa an das kleine Fürstentum Anhalt-Dessau mit den Anlagen von Wörlitz, in denen der Klassizismus in Deutschland seinen Ausgang nahm -, so bestätigen diese Ausnahmen doch nur die Regel. Nun hat die Regel jedoch auch dazu geführt, dass sich die Kunstgeschichte fast ausschließlich auf diese Zentren ausgerichtet hat und die Peripherie eher randläufig, ganz ihrer geografischen Entfernung vom Zentrum entsprechend, nach dem Grundsatz behandelte, je weiter entfernt, desto unbedeutender, desto geringer einer ausführlichen Bearbeitung würdig. Dass dies nicht zutrifft, macht Ansgar Steinhausens Freiburger Dissertation überdeutlich: Zahlreiche Bauten im Elsaß zwischen 1760 und 1800 folgen mit nur geringer Verzögerungszeit den Vorbildern der modellhaft verstandenen Pariser Baukunst und manche übertreffen sogar das Zentrum. Zum anderen ist der Ertrag der Archiv- und Quellen- Forschungen, die Steinhausen intensiv betrieben hat, überaus hoch.
Die Arbeit ist klar in fünf Hauptkapitel gegliedert, denen ein kurzes Resümee, Architektenbiographien und ein Anhang wichtiger Quellen folgen. Drei Schwerpunkte bilden sich heraus. Erstens die heterogene Auftraggeberschaft im Elsaß der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Fürstbistum Straßburg mit den Domherren, die Stadt Straßburg, die Inspection des Ponts et Chaussées d'Alsace, sodann die Départements Bas-Rhin und Haut-Rhin, die Stifte und Klöster und schließlich private Auftraggeber.
Im zweiten Schwerpunkt beschäftigt sich Steinhausen mit den Architekten, die entweder im Elsaß selbst ausgebildet worden waren, oder die vor allem in den 1750er und 1760er-Jahren wegen Auftragsmangel in der Hauptstadt aus Paris in die Peripherie abwanderten. Hier wird höchst interessantes Material ausgebreitet, das unser Bild von Ausbildung, Berufsbild und sozialer Stellung der Architekten im späten 18. Jahrhundert ungemein bereichert. Ganz entgegen den zeitgenössischen, stereotyp vorgetragenen Klagen erfährt man, dass die Architekten mit einem Jahreseinkommen von deutlich über 1000 Livres und oft ein Vielfaches davon zu der relativ wohlhabenden Mittelschicht gehörten und der regionale Adel nicht über mehr Mittel verfügte. Interessant ist auch zu beobachten, wie sich die hauptsächlich in Paris vollziehende Architekturpublizistik in der Provinz ausgewirkt hat und welche Bücher und Stichwerke gerade hier unmittelbar stilbildend waren (zum Beispiel Neufforges Recueil élémentaire).
Im dritten Schwerpunkt untersucht Steinhausen sieben zwischen 1760 und 1800 im Elsaß errichtete Bauten, die chronologisch so ausgewählt sind, dass für jede der Auftraggebergruppen ein typisches Gebäude und darüber hinaus auch verschiedene Bautypen vorgestellt werden. Da sich die neuen stilistischen Ausdrucksmittel zuerst im Sakralbau zeigen, beginnt der Reigen der Referenzbauten mit der Liebfrauenkirche des ehemaligen Benediktinerklosters (seit 1764 weltliches Ritterstift). Diese von dem aus Besançon stammenden Architekten Louis Beuque ab 1765 geplanten Kirche steht als "Säulen-Gebälk-Architektur" in unmittelbarer Nachfolge der Kirche Sainte Geneviève (dem späteren Panthéon) von Jacques-Germain Soufflot in Paris und gehört zu den frühesten Rezeptionen des dort entwickelten Systems. Der Turm von St. Peter und Paul in Neuweiler wurde von dem im Elsaß sehr regen Architekten François Pinot als kompakter, dem Querschnitt der Kirche folgender Baukörper von 1767-1770 errichtet. Auch wenn die Turmfront in vielen Details noch dem 17. Jahrhundert verpflichtet bleibt, so wird ihre Verankerung im späten 18. Jahrhundert vor allem durch die betonte Flächigkeit deutlich.
Ein bislang kaum bekanntes Beispiel für die Krise des Schlossbaus zu Ende des Ancien Régime stellt Steinhausen mit dem fürstbischöflichen Schloss in Zabern vor. Für den Neubau wurde 1779 der gerade erst 26-jährige Architekt Nicolas-Alexandre Salins (de Montfort) gewonnen, der bis dato nur wenig Berufserfahrung hatte sammeln können und deshalb auch unter starken Beschuss seiner Kollegen geriet. Bis 1790 war dann aber dennoch der Außenbau des großen Baublocks mit einer kolossalen korinthischen Ordnung fertig gestellt worden. Er präsentiert sich als uniforme Abfolge standardisierter Bauteile und muss parallel zu dem Palais Royal in Paris von Victor Louis gesehen werden. Als nächstes Bauwerk untersucht Steinhausen den von Pierre-Michel d'Ixnard erbauten Bibliotheksflügel des Collège Royal in Colmar, bei dem ebenfalls die stringent moderne stilistische Haltung, die bis hin zur Einführung einer neuen Säulenordnung durchgeführt ist, auffällt. Von noch größerem Interesse aber könnte die hier verwandte Superposition einer Bibliothek über einem Theater sein. Das Hôtel Hohenlohe-Bartenstein in Straßburg, wiederum von Pinot errichtet, besticht durch seine diskrete Eleganz und die souveräne Umsetzung reduktiver Tendenzen in der Hauptstadt.
Von Pariser Format ist auch das Vauxhall-Projekt das Pierre-Valentin Boudors 1774/1777 vorlegte und dessen Plansatz Steinhausen aus den Archives Municipales de Strasbourg bekannt macht. Hiermit liefert er eine wichtige Ergänzung zu dieser im 18. Jahrhundert so bedeutenden Bauaufgabe, die auf das vitale Verlangen der Bevölkerung nach Vergnügen und Zerstreuung reagierte und nur deshalb so wenig bekannt ist, da diese Bauten meist als reine Investitionsobjekte in Stadtrandlagen aus kurzlebigen Materialien gebaut und oft bereits nach wenigen Jahren wieder abgerissen wurden (wenn sie nicht zuvor abgebrannt waren). In den Bereich der Vergnügungsarchitektur gehört auch der von Salins im Schlosspark von Zabern ab 1783 errichtete vierstöckige Chinesische Pavillon, der von den Zeitgenossen wegen seiner Größe und seiner Lage in der Blickachse des großen Kanals im Zaberner Park gelobt wurde. Mit dem Pavillon erweitert Steinhausen die Perspektive von rein klassizistischer Architektur auf die beginnende Stilvielfalt, die sich vor allem in anglo-chinesischen Gärten aber ebenso im formalen französischen Garten entfalten konnte. Auch hier steht das Elsaß auf gleicher Höhe mit den Entwicklungen im Zentrum.
Steinhausen hat mit seiner Arbeit unsere Kenntnis über die Architektur des Klassizismus in Frankreich um sehr wichtige Aspekte erweitert. Er tut dies in einer überaus ansprechenden, weil sehr präzise beschreibenden und disziplinierten Schriftsprache, die völlig auf jegliche wissenschaftstheoretische und methodische Kapriolen verzichtet. Hier liegt allerdings auch bei allem Lob der einzige Kritikpunkt an der verdienstvollen Arbeit: Denn Steinhausen verbleibt gerade in den beiden zusammenfassenden Schlusskapiteln zu eng in einer rein stilgeschichtlichen Argumentation und nutzt die Chance zu einer Engführung seiner Forschungen zu den Auftraggebern und den Architekten in Bezug zu der formalen Erscheinung der Bauten nur unzureichend. Diese Kritik mindert jedoch in keiner Hinsicht die Leistung der Arbeit, die von einer sonst leider oft vermissten Präzision, Prägnanz und Qualität ist.
Klaus Jan Philipp