Achim Stiegel: Berliner Möbelkunst vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2003, 608 S., 108 Farb-, 245 s/w-Abb., 36 Farbtafeln, ISBN 978-3-422-06379-2, EUR 128,00
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Es gibt viele an sich kultivierte Zeitgenossen, die zwar die Regalmodelle IVAR und BILLY, nicht aber eine bergère von der chaise à la reine unterscheiden können. Für sie wäre Achim Stiegels Buch ebenso interessant wie für jene Bewohner unserer neuen Hauptstadt, deren Liebe für das Alte beim teuer wiedererstandenen Mobiliar ihrer orange-grünen Kinderzimmer endet. Denn Berlin - man mag es heute kaum glauben - war in den Jahren um 1800 neben Wien das Zentrum für hochqualitative deutsche Möbel und konnte sich, zumindest was Verarbeitung und Vielfalt betrifft, mit Paris und London durchaus messen. Für stilistische Innovationen hingegen war der märkische Sand schon damals kein idealer Nährboden. Um die Zöpfe des Rokoko abzuschneiden, musste eine mittelrheinische Provinzstadt mithelfen: Erst der Einfluss des Großmeisters David Roentgen aus Neuwied verhalf ab 1790 dem neoklassizistischen Möbel in der Preußenmetropole zum Durchbruch. Vorn dabei war man dann wieder, als es ab 1830 darum ging, "Kätchen und Gretchen" mit industrieller Billigware zu versorgen.
Zwischen diesen beiden Eckpunkten durchlebte die Stadt Berlin eine ebenso rasante wie wechselvolle Entwicklung seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Die heimische Möbelproduktion ist so etwas wie ein Thermometer, an welchem Achim Stiegel die Wassertemperatur des Zeitflusses abzulesen versucht. Am Anfang steht die geordnete Welt des Ancien Régime, indem es das Zunftmonopol und die zünftigen Meister, wandernde Gesellen und wartende Meisterwitwen, die Meisterprüfung und das Meisterstück gab. Die Obrigkeit sorgte, mit Restriktionen und Privilegien routiniert schaltend und waltend, für klare und ungerechte Verhältnisse - und bestellte luxuriöse Möbel nach dem Vorbild ihrer noch lustigen französischen Verwandten. Als in Paris mehr Guillotinen als Chaiselonguen gebaut wurden, mochten sich auch die Preußen an ihren Flötenuhren, feuervergoldeten Beschlägen, Verwandlungstischen und Geheimschubladen nicht mehr so recht erfreuen. Wandernde Gesellen, aber auch die zünftigen Organisationen wurden im nun losbrechenden Kampf gegen den internationalen Revolutionsgeist zum Sicherheitsrisiko. Verständlich, dass die Formen einfacher und die Abmessungen kleiner wurden. Wo David Roentgen in den Achtzigerjahren für seine die Schwächen des guten Geschmacks subtil ausnutzenden Prunkstücke noch fünfstellige Summen berechnete, konnte sein Nachfolger Hacker froh sein, 1797 für "zwey reich garnirte Toilett Comoden" 580 Thaler zu erhalten (91).
Mit den napoleonischen Kriegen und der Kontinentalsperre drohten auch die kolonialen Edelhölzer wie Mahagoni auszugehen, sodass einheimische Sorten - wie etwa die Birke - patriotisch einspringen mussten. Dafür brachte "der Franzmann" nicht nur Sphingenköpfe und den goût étrusque, sondern auch ein modernistisches Klima, in welchem das starre Zunftmonopol durch die relativ freiheitliche Preußische Gewerbeordnung ersetzt wurde. Jeder konnte nun, solange er Berliner Bürger war, eine Werkstatt eröffnen, eine beliebige Anzahl von Gesellen einstellen und relativ ungestört von Zöllen und Beschränkungen Handel treiben. Dies alles nützte zur Zeit der Befreiungskriege ab 1806 natürlich wenig, als die Möbelproduktion fast völlig zum Stillstand kam. Erst nach dem glücklichen Sieg über Napoleon 1813 konnten Adel und Bürgertum wieder Möbel kaufen - und die Kriegsheimkehrer wieder welche herstellen. Doch hatte sich das Umfeld grundlegend geändert. Wo früher ausschließlich auf Bestellung gefertigt wurde, produzierte man zunehmend auf Vorrat. Technische Innovationen (natürlich aus England und Frankreich) wie die immer feineren Furniersägen sowie die gestiegene Qualität der mechanischen Teile ermöglichten - wie im übrigen Handwerk auch - eine bisher ungekannte Präzision der Ausführung. Vor allem die raffinierten Verwandlungsmechanismen der großen Sekretäre erreichten eine Komplexität, wie sie im 18. Jahrhundert nur bei ganz wenigen herrschaftlichen Prunkstücken vorstellbar war. Auf der anderen Seite stand die aufkommende Billigproduktion. Rationalisierte Techniken, billige Materialien und mindere Sorgfalt ermöglichten Preise, zu denen auch das Kleinbürgertum sich eine großbürgerlich anmutende Ausstattung leisten konnte. Nach dem Vorbild der Londoner Upholsterers eröffneten Berliner Meublesfabrikanten große Schau- und Verkaufsräume, deren hell erleuchtete Schaufenster das Ende altpreußischer Genügsamkeit markierten.
Achim Stiegel hat diese Entwicklung in einem Buch dargelegt, welches die üblichen kunstgewerblichen Publikationen vom Schlage "Pracht und Glanz der XY" weit hinter sich lässt. Über den angestammten Bereich des Restaurators und Stilkundlers hinausgreifend versucht Stiegel, das Möbel aus den vermeintlichen Niederungen des Kunsthandwerks auf ein kulturhistorisches Niveau zu heben. Im Unterschied zu Monografien über renommierte Meistertischler wie Boulle, Roentgen oder Chippendale widmet sich Stiegels Buch in erster Linie dem Regelfall jener anonymen Möbel, deren Stil und Machart auf eine Berliner Herkunft hindeuten. Wo sowohl der Name eines berühmten Meisters als auch der eines fürstlichen Auftraggebers fehlen, bleibt wenig anderes übrig, als sich dem Objekt und seinen jeweiligen "Daseinsumständen" (14) zuzuwenden. Dazu zählen nach Stiegel die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Produktion ebenso wie funktionale Anforderungen oder der zeitgenössische Einrichtungsgeschmack des gehobenen Bürgertums, den Stiegel anhand ausgewählter Beispiele zu rekonstruieren versucht. Natürlich gibt es Strecken, auf denen der Leser gegen dieses Vorhaben aufbegehrt und sich fragt, warum er über dreistellige Seitenzahlen hinweg die schwankende Zahl der Berliner Gesellen, die Entwicklung der Mietpreise oder den Wandel der Bevölkerungsstruktur verfolgen soll. Man kann darüber streiten, wie eng die Berliner Sozialgeschichte im konkreten Fall mit dem Erscheinungsbild und der Funktion eines Möbels verknüpft ist. Insgesamt mögen die Belange der unteren Bevölkerungsschichten verglichen mit ihrer strikten thematischen Relevanz etwas breit recherchiert erscheinen. Doch trotz einer latenten Tendenz zu Uferlosigkeit und vermeidbarer Redundanzen erscheint Stiegels Vorgehen dem Gegenstand angemessen. Das detaillierte Interesse an den "Produktionsmitteln" entspricht der Rolle, welche handwerkliche Aspekte in der Möbelherstellung nun einmal spielen. Kunstgewerbe-Historiker, an die sich das Buch ja vor allem richtet, werden Stiegels Genauigkeit zu schätzen wissen. Und bedenkt man, welche Fragestellungen die kunstgeschichtliche Forschung inzwischen allen Ernstes verfolgt, bedürfen Stiegels Exkurse auch hier keiner Rechtfertigung. So gesehen hätte man die an den Anfang gestellte, breite Darlegung des methodischen Vorgehens ebenso gut auch weglassen können (20-47). Die folgenden Untersuchungen - besonders aber die eingehenden Analysen verschiedener Schreibmöbel, dem eigentlichen Schwerpunkt des Buchs (265-432) - sprechen für sich. Obschon das Register etwas schmal ausfällt und die Gesamtstruktur nicht auf ein schnelles Nachschlagen hin angelegt ist, wird das Buch als Standardwerk zum Berliner Möbel lange seine Gültigkeit behalten.
Die Abbildungen sind zahlreich, doch dürfte deren meist kleines Format das Buch vor falschen Freunden schützen. Auf seine Kosten kommt, wer sich nicht nur für die Gesamterscheinung eines Möbels interessiert, sondern auch für Nahaufnahmen von Marquetterien, mechanischen Teilen oder Beschlägen. Wenn auch die Qualität vieler dieser Illustrationen nicht ausreicht, um für den Restaurator oder den Kunsthändler wirklich von Wert zu sein, so lenken sie doch das Interesse des Lesers dorthin, wo die Kennerschaft im Kunsthandwerk beginnt: auf das Detail. Und genau hier mag die entscheidende Qualität von Stiegels Buch liegen: Dem anvisierten, breiteren Publikum wird ein Bewusstsein für Form, Aufbau, Funktion, Material und Verarbeitung vermittelt, ein Bewusstsein, welches die Grundlage des Vermögens bildet, Qualität zu beurteilen. Wenn auch viele Kunsthistoriker ohne dergleichen ein sorgenfreies Leben führen, so gibt es doch zu denken, dass man beispielsweise das sensationell sortierte Kunstgewerbemuseum zu Berlin nahezu garantiert ohne kollegiale Begegnungen besuchen kann. Woher dieses sanfte Desinteresse für die Objekte der Vergangenheit auch immer rühren mag, es steht der wirklichen Kenntnis einer Epoche im Wege, deren kluge Schriften man zwar kennt, nicht aber die Tische, Pulte und Sekretäre, an denen diese geschrieben wurden. Doch es ist nie zu spät. Ein möglicher Anfang wäre, sich Achim Stiegels Buch zu kaufen - und an Stelle eines (neuen) Autos vielleicht doch die besagte chaise à la reine.
Golo Maurer