Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner - Anthropologe - Politiker, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 556 S., ISBN 978-3-412-09102-6, EUR 39,90
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Geschickt im großen "Virchow-Feierjahr" platziert, tritt das dickleibige und ansprechend gestaltete Buch von Constantin Goschler mit einigen Ambitionen an. Ganz bewusst nimmt die aus der Habilitationsschrift hervorgegangene Arbeit die Herausforderung der "erneuerten Biographik" an, um in dezidierter Absetzung zur Biografie als bildungsbürgerlicher Stilform der Identitätsbildung im 19. Jahrhundert das "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe" zu rekonstruieren, das die vielfältigen Facetten eines "Heros" jener Zeit zur Geltung brachte. In der Tat scheint sich mit Blick auf die "historische Größe" der preußische Arzt, Politiker und Anthropologe Rudolf Virchow (1821-1902) wie kaum ein zweiter anzubieten, um die großen Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts in einer Person zu verdichten.
Nach einer methodischen Einleitung (von deren Lektüre dem eiligen Leser unnötigerweise abgeraten wird) spannt Goschlers Monografie keine einsträngige Erzählung auf, sondern versucht, Leben und Werk von Rudolf Virchow in drei großen Abschnitten zu konstruieren.
Das erste Kapitel geht der Identitätskonstruktion im Spannungsverhältnis von öffentlicher und privater Sphäre nach. Schule und Studium, Revolution und Karriere, Lebensentwurf und Lebensführung sind die drei Beschreibungsebenen, mit denen sowohl die Spannungen und Brüche einer Normalbiografie des "Bildungsbürgers" als auch deren biografischen Selbstreflexion exemplarisch aufgezeigt werden sollen. Dabei greift Goschler nicht nur die umfangreiche Bürgertumsforschung auf, sondern bezieht auch die neuere Bildungsforschung ein, um Virchows intellektuellen Welthorizont nachzuzeichnen.
Die doppelte Karriere in Wissenschaft und Politik bildet die Achse des zweiten Kapitels, das sowohl dem institutionellen Verhältnis der weit gespannten Tätigkeitsfelder als auch deren relationaler Werteökonomie nachgeht. Der beständige Abgleich zwischen dem wissenschaftlichen Werdegang und politischem Engagement lässt das eigentümliche Spannungsfeld von Virchows biografischer Identität plastisch werden, wobei Virchows Einsatz in der Revolution von 1848/49 als ein weit gehend kontingentes Ereignis der biografischen Identität begriffen wird.
Das dritte Kapitel stellt schließlich die wissenschaftlichen und politischen Ideen in den Mittelpunkt. Pathologie und Gesellschaft, Fortschritt und Entwicklung, Vererbung und Verbesserung sowie Bildung und Wissen sind die verschiedenen Facetten, die sowohl die Assoziation als auch das Auseinanderbrechen von politischer und wissenschaftlicher Fortschrittsutopie beschreiben.
In diesem dreifachen Zugriff bildet die Frage nach dem Wechselverhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft die zentrale Frage der biografischen Studie. Dabei wird die szientistische Wahlverwandtschaft von Naturwissenschaft und Liberalismus (21) letztlich jedoch etwas einseitig ausgeleuchtet, nämlich aus der Perspektive der Gesellschaft: Eingehend wird dabei die Mobilisierung des medizinischen Wissens für eine "unpolitische Politik", die Verwendung wissenschaftlicher Wahrheits- und Neutralitätsansprüche für die Durchsetzung der eigenen Position, die Legitimierung gesellschaftlicher Aktivitäten auf naturwissenschaftlichen Fakten, die Begründung sozialen Engagements als objektive Notwendigkeit herausgestellt - was diesem Wissen aber den Anspruch auf Objektivität, Wahrheit und Neutralität verleiht, bleibt weit gehend ausgeblendet (und damit aber auch der legitimatorische Kern des "existenziellen Projekts", der Selbstdeutung Virchows). Stattdessen entfaltet die Studie eine tiefsinnige Geschichte des deutschen Liberalismus und der für diese Zeit charakteristischen Amalgamierung von wissenschaftlichen und politischen Fortschrittsideen. Goschler illustriert damit die landläufige Rede von der kulturellen Deutungsmacht der modernen Naturwissenschaften durch eine breite und detaillierte Analyse, die zeigt, in welcher Weise mit Wissenschaft tatsächlich Politik, Gesellschaft und Staat gemacht wurde. Die Wissenschaft selbst bleibt dabei allerdings, wie die Überschrift des dritten Kapitels bereits vorwegnimmt, weitgehend ein "magischer Speer", dessen Reichweite und Durchschlagskraft zwar eingehend beschrieben wird, dessen Genese und Eigenart dem Leser jedoch weitgehend verschlossen bleibt.
Mit dieser Kritik soll keineswegs nur auf die neuere Wissenschaftsforschung hingewiesen werden, die sich zur Aufgabe macht, diese "Magie" der Naturwissenschaften, die Entstehung ihrer Objektivitäts- und Allgemeinheitsansprüche zu ergründen und als historische Konstruktion der Moderne zu begreifen - an der übrigens gerade Wissenschaftler wie Virchow nicht unerheblich beteiligt waren. Sie hebt vielmehr auf eine zentrale Figur der biografischen Interpretation Goschlers ab, mit der die heroische Identität des wissenschaftlichen und politischen Engagements als Selbstkonstruktion und Lebensentwurf Virchows dekonstruiert wird. In der Tat hat sich die Historiographie überwiegend auf Virchows Selbstzuschreibungen verlassen. Sie gipfeln in den prophetischen Worten, mit der dieser 1849 nach der gescheiterten Revolution die Herausgabe der "Medicinischen Reform", nicht aber die Weiterarbeit an "der Reform der Wissenschaft und der Gesellschaft" eingestellt hatte: "Wir wechseln nicht die Sache, sondern den Raum" (Medicinische Reform 1849, Heft 52, 274).
In Goschlers Interpretation wird die Revolution 1848/49 eine schwierige biografische Passage, die in die "innere Emigration" mündete. Auch die Charakterisierung des späteren kommunalpolitischen Engagements als "unpolitische Politik", die sich jenseits aller parteipolitischen Niederungen wähnte (27), reduziert den gesundheitspolitischen und sozialmedizinischen Einsatz auf liberale Honoratiorenpolitik. Diese Interpretation überzeugt durchaus, doch läuft die tendenzielle "Entpolitisierung" Gefahr, den von Virchow apostrophierten "Raumwechsel" zu verpassen: Es scheint mir nämlich keineswegs nur eine biografische Kontingenz zu sein, dass in der Person Virchows die Theorie eines zellulären Organismus und einer sozialen Krankheitskonstitution mit liberalen und demokratischen Anschauungen korrespondiert - wie auch in der Person Robert Kochs ein politischer Konservatismus mit der rigiden bakteriologischen Kontrolle des Krankheitskeims einhergeht. Gerade die konzeptionelle Auseinandersetzung um die theoretische Ausrichtung der Medizin jener Jahrzehnte könnte folglich in einem Perspektivenwechsel zeigen, in welcher Weise die medizinischen Wissenschaften politische Einstellungen und gesellschaftliche Vorstellungen in Theorie und Praxis verhandelten.
Als Hans-Ulrich Wehler vor geraumer Zeit wieder einmal über die Herausforderungen der Kulturgeschichte räsonierte, führte er die Geschichte der Wissenschaften weder in seiner Leistungsbilanz der Gesellschaftsgeschichte an noch auf ihrer weiteren Agenda. [1] Diesen blinden Fleck systematisch ausgeleuchtet zu haben, ist ein wesentliches Verdienst von Goschlers Arbeit. Seine biografische Studie birgt dabei eine weit läufige Untersuchung über den Liberalismus im Preußen des 19. Jahrhunderts, die Rolle der Wissenschaften für die Herausbildung der bürgerlichen Welt und ihren Beitrag für die Modernisierung der Gesellschaft. Im biografischen Zugriff kommen dabei sehr geschickt Elemente aus Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte zur Geltung, die Goschler zu einem dichten Bedeutungsgeflecht verknüpft, das seine These von der innigen, jedoch nur zeitweiligen Verbindung von Naturwissenschaft und Liberalismus (22) überzeugend trägt. Darunter leidet jedoch die biografische Skizze. Bei der detaillierten Zeichnung des sozialen und des politischen Virchow bleibt der Mediziner und Pathologe häufig merkwürdig blass. Weder erfahren Leser etwas über den konzeptionellen Zusammenhang, in dem Virchows Formulierung der Zellularpathologie ihre programmatische Bedeutung entfaltete, noch über deren methodologische Funktion, die ihr bei der beginnenden disziplinären Ausdifferenzierung der medizinischen Wissenschaften zukam. Mehrmals habe ich mich beim Lesen gefragt, ob Goschler eine andere Geschichte erzählt hätte, wäre Virchow statt Pathologe - sagen wir: Physiologe gewesen. Auch wird nicht klar, ob der Verfasser zwischen "Medizin" und "Naturwissenschaft" (hierzu die neueren Arbeiten von John Harley Warner) zu unterscheiden weiß. [2] Das ist keineswegs nur die beckmesserische Anmerkung eines Fachhistorikers, sondern scheint mir vielmehr Folge der perspektivischen Asymmetrie zu sein, in der Gesellschaft und Wissenschaft beschrieben werden.
Möglicherweise ist der Titel der vorliegenden Monographie Programm. Sicherlich nicht zufällig assoziiert er nämlich die landläufige Standardbiographie von Erwin H. Ackerknecht, zu der Goschlers Arbeit in stillem Dialog zu stehen scheint. [3] Denn vielfach wird eine interessierte Leserschaft neben das vorliegende Werk wohl dieses schmale Buch von 1957 (nicht dagegen manch andere dickleibige Virchow-Exegese) legen müssen, um die Ausführung Goschlers über die Medizin der Zeit und Virchows pathologisches Werk nachvollziehen zu können.
"Fischsuppe ohne Fisch" - so lautete folglich auch ein bissiger Kommentar aus der medizinhistorischen community zum vorliegenden Buch. Vielleicht lässt sich das Werk mit der Rezeptur seiner im Titel aufgeführten Ingredienzien tatsächlich mit einer delikaten Fischsuppe vergleichen, die das schwierige Verhältnis zwischen flüchtigem Nass und den bissfesten Einlagen unterschiedlicher Provenienz auszubalancieren sucht. Nach kulinarischen Kriterien ist Constantin Goschler dabei ein wohl komponiertes, gut abgeschmecktes und obendrein leicht genießbares Opus gelungen, das von Umfang und Gehalt trotz der mehreren Michelinsterne, die es fraglos verdient, alles andere als ein Werk der "nouvelle cuisine" darstellt. So satt diese Suppe auch macht - etwas mehr Fisch hätte sich der Rezensent allerdings schon gewünscht.
Anmerkungen:
[1] Hans-Ulrich Wehler: Herausforderungen der Kulturgeschichte, München 1998, 46.
[2] John Harley Warner: The History of Science and the Sciences of Medicine, in: Osiris 10 (1995), 164-193.
[3] Erwin Ackerknecht: Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe, Stuttgart 1957.
Volker Hess