Norbert Frei / José Brunner / Constantin Goschler (Hgg.): Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 8), Göttingen: Wallstein 2009, 773 S., ISBN 978-3-8353-0168-9, EUR 52,00
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Dieses Buch ist aus einem Projekt hervorgegangen, das von einer deutsch-israelischen Forschergruppe durchgeführt und von der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development finanziert worden ist. Die einzelnen Studien basieren zu einem großen Teil auf den Akten der Abteilung Wiedergutmachung in der Bezirksregierung Düsseldorf, die der Forschung seit Ende 2000 zugänglich sind. Dabei handelt es sich um die Akten von 625.000 Entschädigungsfällen, die aufgrund ihrer Materialfülle zwar nicht vollständig ausgewertet, aber doch erstmals gründlich analysiert werden konnten.
Im Zentrum der Forschungen steht die Untersuchung der Entschädigungsverfahren oder genauer gesagt: des Verwaltungshandelns und der Implementation der Wiedergutmachungsgesetzgebung in Nordrhein-Westfalen. Aber es fehlt auch nicht an Beiträgen, die sich mit den Modalitäten der Wiedergutmachung in Israel selbst nach dem Luxemburger Abkommen von 1952 beschäftigen. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel sind für den Sammelband von zentraler Bedeutung, wie in mehreren Aufsätzen deutlich wird. Insbesondere geht es um die bürokratische Praxis in beiden Ländern, die von den zuständigen israelischen Beamten offensichtlich mit mehr Empathie und Fingerspitzengefühl für die Verfolgten gehandhabt wurde als von ihren deutschen Kollegen. Gleichwohl fällt das Urteil über die deutschen Beamten nicht einhellig negativ aus, denn manche Juden hielten sie für zuverlässiger als ihre Glaubensbrüder, so dass sich die Wiedergutmachungsverfahren nicht immer in einem Klima des Misstrauens vollzogen.
Im Einzelnen gruppieren sich die Beiträge des Sammelbands um die vier Themenfelder "Geschichte und Geschichten", "Anerkennung und Ausgrenzung", "Leib und Seele", "Recht und Gerechtigkeit". Sieht man genauer hin, so wird in diesem Rahmen eine feinere Differenzierung erkennbar, die den vielfältigen Aspekten der bürokratischen Umsetzung der Wiedergutmachung, aber auch den sozialen Beziehungen Rechnung trägt, die sich aus diesem komplexen und oft langwierigen Prozess ergaben. Die Aufsätze schließen dabei nicht nur Forschungslücken, sondern tragen auch dazu bei, hartnäckige Klischees zu hinterfragen, die sowohl in älteren Arbeiten als auch in der öffentlichen Meinung immer wieder anzutreffen sind.
Den roten Faden, der sich durch die facettenreichen Aufsätze des Sammelbands zieht, scheint die Überzeugung zu bilden, die Wiedergutmachung sei so etwas wie ein Lernprozess gewesen - und ein Prozess der Reintegration, der jenseits aller bürokratisch-juristischen Begleiterscheinungen mit der Zeit Spuren in der kollektiven Mentalität hinterlassen und so - wenn auch nicht ohne Konflikte - zu einer allmählichen Annäherung zwischen den Opfern des NS-Regimes und dem Rest der Gesellschaft beigetragen hat. Dies ist nicht zuletzt das Ergebnis einer neuen Sensibilität gegenüber lange vergessenen Opfergruppen, die sich seit den 1980er Jahren bei Teilen der öffentlichen Meinung beobachten lässt. Dazu gehören Homosexuelle, Opfer von Zwangssterilisationen oder sogenannte Gewohnheitsverbrecher, die häufig auch nach 1945 benachteiligt und an den Rand der Gesellschaft abgedrängt wurden. Mit dieser neuen Sensibilität kam es zu einer Revision oder Ergänzung des geltenden Wiedergutmachungsrechts und zu neuen Bestimmungen, die zwar nicht mehr wie früher zu lebenslangen Rentenzahlungen, aber wenigstens zu einmaligen Entschädigungszahlungen führten.
Die Hierarchie der Opfergruppen, die sich im Verlauf der Wiedergutmachungsverfahren herausbildete, zeigt sich insbesondere an der hohen Zahl der gescheiterten Anträge, die im Regierungsbezirk Düsseldorf von Angehörigen bestimmter diskriminierter Minderheiten gestellt wurde; in den 1950er Jahren erreichte der Anteil dieser Anträge an allen Anträgen auf Wiedergutmachung mit zwei Dritteln einen Spitzenwert. Allerdings hatten auch andere Gruppen von Verfolgten mit Diskriminierungen zu kämpfen. Dies gilt etwa für die Kommunisten, die im Zuge des Kalten Krieges Mühe hatten, ihre Ansprüche durchzusetzen oder ihre Positionen zu behaupten. Als Beispiel kann die Vita von Marcel Frenkel gelten, der als Jude und Kommunist gleich doppelt in die Mühlen des NS-Regimes geraten war, nach seiner Rückkehr aus dem niederländischen Exil in der Wiedergutmachungsverwaltung Nordrhein-Westfalens herausgehobene Funktionen übernahm - und 1950 wegen seiner politischen Überzeugung von seinen Aufgaben entbunden wurde.
Eine wichtige Rolle in den Entschädigungsverfahren spielte das Territorialprinzip. Danach mussten die Opfer nachweisen, zu einer bestimmten Zeit auf dem Gebiet des Deutschen Reiches gelebt zu haben, um Anspruch auf Wiedergutmachung zu haben. Damit wurde aber insbesondere für die Verfolgten eine hohe Hürde errichtet, die aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten stammten, und zwar insbesondere dann, wenn diese Gebiete jenseits des Eisernen Vorhangs lagen. Die Opfer des NS-Regimes in Westeuropa konnten über ihre Regierungen immerhin in den 1950er und 1960er Jahren sogenannte Globalentschädigungsabkommen erreichen, in denen sich die Bundesrepublik verpflichtete, ihren Heimatländern Wiedergutmachungszahlungen zukommen zu lassen.
Der kritische Blick auf den öffentlichen Diskurs und auf das bürokratische Verfahren der Wiedergutmachung erlaubt es den Autorinnen und Autoren, sich ein differenziertes Urteil zu bilden und nicht vorschnell die Position jener zu teilen, die das partielle Scheitern einer Reintegration durch Wiedergutmachung entweder auf einen von der Bürokratie entfachten "Krieg gegen die Opfer" oder auf blinde Vorurteile gegen diese zurückführten. In einigen Beiträgen liest man etwa, dass Anträge auf Wiedergutmachung wegen gesundheitlicher Schäden vergleichsweise geringen Erfolg hatten. Dies sei freilich weniger auf das feindselige Verhalten des psychiatrischen und medizinischen Fachpersonals zurückzuführen als auf die vor allem in der Psychiatrie vorherrschende Wissenschaftskultur der 1950er Jahre. So wurde beispielsweise die Überzeugung vertreten, nur schwerwiegende organische Störungen könnten seelische Störungen hervorrufen, die infolgedessen stark unterschätzt wurden. Tatsächlich wurden vor allem Anträge wegen psychisch bedingter Gesundheitsschäden von der Wiedergutmachungsbürokratie mit besonderem Argwohn behandelt. Der genaue Blick auf die Praxis der Wiedergutmachung zeigt auch, dass viele Beamte nicht aus bösem Willen handelten, sondern dass sich immer wieder objektive Schwierigkeiten ergaben, die etwa mit dem Mangel an erfahrenem Personal, mit fehlenden Ressourcen oder mit begrenzten Aufstiegschancen zu tun hatten - alles Aspekte des Arbeitslebens, die den Beamten nicht gerade Leistungsanreize boten.
Die zentrale Botschaft des Sammelbands, die hoffentlich vor allem auch außerhalb der deutschen Grenzen wahrgenommen wird, lautet - in den Worten von Kristina Meyer und Boris Spernol - so (723): "Der Rahmen der Wiedergutmachung ist durch Gesetze vorgegeben - und nur innerhalb dieses Rahmens lässt sich die Praxis der Wiedergutmachung bewerten."
Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.
Giovanna D'Amico