Axel Drecoll: Der Fiskus als Verfolger. Die steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern 1933 - 1941/42 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 78), München: Oldenbourg 2009, X + 362 S., ISBN 978-3-486-58865-1, EUR 54,80
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Drecolls Studie basiert auf seiner 2005 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität angenommen Dissertation, die für die Drucklegung überarbeitet wurde und sich in erster Linie mit der Rolle der Finanzbehörden bei der Verdrängung der bayerischen Juden aus der Wirtschaft befasst. Dabei kommt es dem Autor darauf an zu zeigen, wie der Fiskus die entsprechenden auf Reichs- und Landesebene verfügten Maßnahmen implementierte, um dieses von der NS-Führung verfolgte Ziel zu erreichen. Genauer gesagt, geht es um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie sowie um regionale Besonderheiten der Judenverfolgung mit den Instrumenten der Finanzverwaltung, denen der Autor auf der Basis ausgedehnter Archivstudien nachspürt.
Die Rolle des Fiskus bei der Verdrängung und Ausplünderung der Juden ist bislang nur wenig erforscht worden; Bayern macht hier keine Ausnahme, so dass sich Drecoll nur auf einige Teilstudien stützen kann. Der Autor versucht mit seiner Studie, diese Lücke zu schließen, und er tut dies, indem er die Verfolgungsmaßnahmen der Finanzverwaltung in den größeren Rahmen der "Arisierung" und die Verdrängung der Juden aus ihren angestammten Berufen stellt. Drecoll gliedert seine Arbeit in zwei Teile: Im ersten Teil beschäftigt er sich mit der Rolle der Verfolger, wobei er der NSDAP besondere Aufmerksamkeit widmet, während er im zweiten Teil die Folgen der Diskriminierung analysiert, die nicht nur ökonomischer Natur waren.
Die Menge an überlieferten Quellen erlaubte es dem Autor nicht, ganz Bayern in den Blick zu nehmen. Er beschränkte sich daher auf die Untersuchung aussagekräftiger Fallbeispiele, die ausgewählt wurden, um regionalspezifischen Unterschieden und gesamtbayerischen Gemeinsamkeiten auf die Spur zu kommen. Im Einzelnen nahm Drecoll seine Tiefbohrungen in Oberbayern (unter besonderer Berücksichtigung Münchens), in Mittelfranken (mit Nürnberg als Zentrum) und in Unterfranken (vor allem die Gegend um Hammelburg und Bad Kissingen) vor. Dabei kommt der Verfasser zu Ergebnissen, die sich weitgehend mit den Ergebnissen anderer Studien decken, in denen seit Anfang der 1990er-Jahre wiederholt herausgearbeitet worden ist, wie Impulse "von unten" zentral verordnete Verfolgungsmaßnahmen vorweg genommen haben, und zwar schon unmittelbar nach der 'Machtergreifung' der Nationalsozialisten. Bekanntlich zählte zu den ersten Maßnahmen zur Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben der Boykott sogenannter nicht-arischer Geschäfte, angestoßen von Exponenten der örtlichen NSDAP und zuweilen begleitet von einer brüsken Parteinahme der Kundschaft, die diese Geschäfte entweder offen mieden oder sich sogar von der Aggressivität der Braunhemden gegenüber den jüdischen Geschäftsleuten anstecken ließen.
Außergewöhnlich brutal ging man in München und Nürnberg zu Werke, wo der Antisemitismus besonders tief verankert war. Hier kam es auch zu frühen Versuchen der Nationalsozialisten, eigene Organisationsstrukturen parallel zu denen der öffentlichen Verwaltung aufzubauen, um ihre eigene Machtbasis zu stärken. Dabei war die Rolle des Gauleiters und der Partei für die Festlegung des politischen Rahmens, in dem sich die Verfolgung abspielte, zentral. In Unterfranken verhielt es sich etwas anders, da bestimmte Faktoren den Handlungsspielraum der Nationalsozialisten einengten. Wichtig war in diesem Zusammenhang etwa die Tatsache, dass es hier zahlreiche jüdische Viehhändler gab, die gute Beziehungen zu ihren "arischen" Geschäftspartnern pflegten. Schon dieser erste analytische Zugriff erlaubt es dem Autor, eine der zentralen Deutungsachsen der NS-Historiografie im Lichte seiner Ergebnisse zu diskutieren: die polykratische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft, die durch einen Machtkampf von staatlichen Institutionen und Parteistellen auf allen Ebenen zu einer umfassenden Radikalisierung des Gesamtsystems geführt habe. Drecoll weist demgegenüber darauf hin, dass sich - je nach Untersuchungsraum - Indizien dafür finden lassen, dass es zumindest vor Ort weniger zu einer Konkurrenz von staatlicher Verwaltung und Partei als zu einer gewissen intentionalen Konvergenz gekommen sei, die sich auf ein gemeinsames antisemitisches Fundament gegründet habe.
Eine intentionale Konvergenz erkennt der Autor auch mit Blick auf die Ausplünderung der Juden mit fiskalischen Mitteln, die nach 1937/38 immer skrupelloser verfolgt worden sei, aber bereits 1936 einen ersten Schub erfahren habe, als ein neues Gesetz zur Devisenkontrolle zu einer Verschärfung der antijüdischen Maßnahmen geführt habe. Hier setzt sich Drecoll nicht nur von der gängigen Periodisierung ab, die 1938 als erste wichtige Zäsur benennt, sondern stellt auch die Interpretation Ernst Fraenkels vom 'Dritten Reich' als "Doppelstaat" auf den Prüfstand. Nach seiner Meinung muss die für Fraenkel prägende Dichotomie von Normenstaat und Maßnahmenstaat für sein Untersuchungsfeld relativiert werden, und er versucht diese These durch eine Untersuchung der Finanzverwaltung in den ersten Jahren der NS-Herrschaft und ihre Indienstnahme für die Judenverfolgung zu untermauern. Schließlich untersucht der Autor die Beteiligung der Bevölkerung an der Ausplünderung der Juden und die Konsequenzen dieser Ausplünderung für die Opfer, wobei es ihm gelingt, ein pointiertes Bild der Situation zu zeichnen.
Drecolls Studie bringt die Erforschung der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben unzweifelhaft einen Schritt voran - insbesondere mit Blick auf die Rolle des Fiskus in diesem Prozess. Allerdings leidet die Darstellung unter der - auch der Komplexität des Untersuchungsgegenstands geschuldeten - Zersplitterung der Analyse, die wie ein Bumerang auf Drecolls Ergebnisse zurückfällt und sie bisweilen wenig klar und etwas unübersichtlich erscheinen lässt.
Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.
Giovanna D'Amico