Martin Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière LaCroze (1661-1739) (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 16), Tübingen: Niemeyer 2001, 168 S., ISBN 978-3-484-81016-7, EUR 40,00
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"Daß Geschichte von intellektuellen Zirkeln und Netzwerken zuweilen Züge einer Kriminalgeschichte haben kann, daß sie von Flucht, Verschwörung und gefälschten Texten zu handeln hat, daran trägt nicht der Autor, sondern die Wirklichkeit Schuld" (1). Der Münchener Philosophiehistoriker Martin Mulsow legt, sieht man von einer Lebens- und Werkbeschreibung aus dem Jahr 1741 ab, die erste Monografie über den hugenottischen Kirchenhistoriker, Orientalisten und Bibliothekar Mathurin Veyssière La Croze vor. Die Wirklichkeit, die ihm den Gegenstand seiner Darstellung liefert, besteht in einem folgenschweren religionspolitischen Entschluss: Am 18.10.1685 widerruft Ludwig XIV. das Edikt von Nantes. Das religiöse Leben der Hugenotten spielt sich fortan im Untergrund und auf der Flucht, im Exil und innerhalb eigener Kolonien im Ausland ab. La Croze selbst lebt bis 1696 als Benediktiner unter anderem in Saint-Germain des Prés in Paris. Als er zum Calvinismus wechselt, flieht er über Basel nach Berlin und tritt als Bibliothekar in den Dienst des preußischen Königs Friedrich I. Irgendwann in den Jahren danach schreibt er - die genaue Vorlage gilt es zu identifizieren - eine Versfassung der Toleranzparabel von den drei Ringen nieder, jener Parabel, die seit Boccaccios Decamerone für die gegenseitige Duldung der jüdischen, islamischen und christlichen Religion steht. La Croze "verpasst" dem Text an signifikanten Stellen einen eigenen Wortlaut und richtet damit, wie auch mit seinem übrigen Werk, seine Feder gegen die religiösen Verfolger, die Historienfälscher im Namen von Kirchen- und Ordenspolitik, die "Ketzermacher" seiner Zeit.
Nach Forschungs- und Editionsarbeiten zu Johann Lorenz Mosheim, Peter Friedrich Arpe oder etwa Georg Schade stellt Mulsow mit der Studie über La Croze erneut eine Einzelfigur der radikalen deutschen Aufklärung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie seine inzwischen erschienene Habilitationsschrift [1] liegen auch "Die drei Ringe" auf der Linie einer verstärkten Auseinandersetzung der intellectual history mit dem clandestinen Gelehrtenmilieu der Frühneuzeit, für das vor allem Margaret Jacob und Robert Darnton das Interesse neu geweckt haben dürften. [2] Für die deutsche Aufklärung sind es Martin Pott und Winfried Schröder, die als Herausgeber der Reihen "Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung" und "Freidenker der europäischen Aufklärung" (beide bei fromann-holzboog) sowie in zwei monografischen Abhandlungen [3] die Forschung auf eine neue Grundlage stellen; Mulsow arbeitet als Bandmitherausgeber an den genannten Serien mit.
Mulsow setzt sein Kriminalstück beim Fund der Abschrift von La Croze in Krakau an (1. Kapitel), führt den Leser durch das Labyrinth seiner Recherchen zur Person des Franzosen und seinem intellektuellen Umfeld (2.-7. Kapitel) und lässt die Untersuchung schließlich mit der Frage nach der Vorlage des Drei-Ringe-Manuskripts wieder in ihren Anfangspunkt einbiegen (8.-9. Kapitel). Von der Ringparabel glaubte man bisher, sie habe in der Aufklärung bis zu Lessings Nathan keine nennenswerte Aufnahme erfahren. Anhand der historisch-philologischen Projekte von La Croze zum einen, dem Überlieferungsschicksal der Parabel zum anderen zeigt Mulsow auf, wie zentral das Anliegen einer "praktizierten Vorurteilslosigkeit" (94) und einer unparteilichen (Kirchen-)Geschichtsschreibung den exilierten wie auch einheimischen Gelehrten in Berlin oder Amsterdam, Halle oder Leipzig sein konnte.
Speziell La Crozes Engagement als Mentor, "Makler" und Protektor unbequemer Intellektueller wertet Mulsow als "Ferment der Toleranz in [der] deutschen Frühaufklärung" (97); die Arbeit wirft somit auch ein Licht auf die Frühphase des verwickelten Transfers der französischen in die deutsche Moderne. Die Verortung von La Croze zwischen Dogmentreue und Heterodoxie ist andererseits differenziert genug, den Exilgelehrten nicht länger mit dem Etikett des radikalen Freidenkers zu markieren, das ihm vor allem die ältere Religionsgeschichtsschreibung angehängt hatte (2, 8, 81-85). Wie Mulsow detailliert nachweist, ist es eine im Einzelfall besonnene Veröffentlichungspolitik, die La Croze von der Kompromisslosigkeit der "Ganz-Radikalen" wie Johann Christian Edelmann oder Peter Zorn trennt (3, 78-84).
Methodisch legt Mulsow der Darstellung neben den Publikationen von La Croze wesentlich dessen Briefwechsel und auch Manuskriptmaterial (Exzerptbücher, Randkommentierungen et cetera) zu Grunde. Die Studie ist exzellent recherchiert, die Auswertung der Textdokumente in großem Umfang an bereits bestehender Literatur rückversichert. Mit detektivischem Spürsinn wird die geheime Verbreitung einzelner Texte verfolgt, ohne durch diese Liebe zur Gründlichkeit den Fluss der Narration zu stören. Die genaue Vorlage der Parabelabschrift aus der Hand von La Croze, und ob es sie überhaupt gegeben hat, kann Mulsow indes nicht abschließend klären. Dies ist ja sachlich auch gar nicht so wichtig. Der Verfasser nutzt hier vielmehr die Chance, seine kriminalistische Fantasie zur Höchstform zu steigern und an den verwickelten Filiationen des frühaufklärerischen Literatur- und Institutionengewebes auszulassen.
Der weitgefasste kulturgeschichtliche Ansatz der Arbeit verschafft Raum für kurzweilige Abstecher in so unterschiedliche Kontexte wie die Dynamik intellektueller Netzwerke, das Ethos des clandestinen Manuskripttausches, die Praxis von Lüge, Fälschung, Verschwörung in der Frühneuzeit oder die Musterabläufe zeitgenössischer Karrieren mit den typischen Unwägbarkeiten von Patronage und Treuebruch. Allerdings bleibt die Studie auf diese Weise eine Geschichte von Anlässen, nicht von Argumenten in Kontroversen, auf die man nach manch schmackhaftem Köder doch auch neugierig wäre: Was implizieren die Varianten, die La Croze in den Text der Ringparabel einträgt, für seine Interpretation der Toleranzidee? Wie argumentiert er gegen die Widerlegung des Menschseins Gottes in einem portugiesisch-jüdischen Clandestinum, die er für so schlagkräftig hält, dass er es vorzieht, seine Übersetzung unter Verschluss zu halten (83 f.)?
Nicht zuletzt sind es die Sekundärtugenden des Historikers, die die Untersuchung so qualitätsvoll machen. Die sprachliche Gestaltungskraft und der narrative Esprit Mulsows schlagen sich wie schon in früheren Arbeiten auch hier unter anderem in den auffallend eleganten Übersetzungen originalsprachlicher Zitate nieder. Die Edition des Manuskripts "Les trois anneaux" im Anhang, die 16 Abbildungen, das Inventar der Korrespondenz von La Croze sowie das Personenregister, die Mulsow beifügt, bereichern die Studie in ihrem Forschungs- und Lektürewert.
In der Ringparabel fanden Refugiés wie La Croze den Prospekt ihrer politischen Duldung und den Gegenentwurf zur eigenen Unterdrückungsgeschichte. Auch daran trägt die Wirklichkeit Schuld. An einem kleinen, aber dicht beschriebenen Ausschnitt beleuchtet Mulsow diese repressive Realität ebenso wie das Ringen um eine glaubensindifferente Praxis der Gelehrsamkeit. In seinem Beitrag verbindet sich die minuziöse Kenntnis des Zeitgeschehens mit einer einfallsreichen Kombinatorik der Fakten und einer hohen Kunst der einnehmenden Darstellung. Dies ist das Verdienst des Autors.
Anmerkungen:
[1] Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Hamburg 2002.
[2] Vergleiche Robert Darnton: The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge / Mass. 1982; Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons and Republicans, London 1981; inzwischen auch Jonathan Israel: Radical Enlightenment, Oxford 2001.
[3] Vergleiche Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992; Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1998, der vor allem deutsche und französische Quellen verarbeitet.
Karin Hartbecke