Stephan Albrecht: Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 104), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 280 S., 136 s/w-Abb, ISBN 978-3-422-06394-5, EUR 55,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Christian Schuffels: Das Brunograbmal im Dom zu Hildesheim. Kunst und Geschichte einer romanischen Skulptur, Regensburg: Schnell & Steiner 2012
Hedwig Röckelein (Hg.): Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Zur Rekonstruktion und Präsentation von Kirchenschätzen, Regensburg: Schnell & Steiner 2013
Arne Karsten / Philipp Zitzlsperger (Hgg.): Tod und Verklärung. Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004
Stephan Albrecht u.a. (Hgg.): Kunst - Geschichte - Wahrnehmung. Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008
Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004
Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis würde man unter typen- oder stilgeschichtlichen Kriterien kaum in einen näheren Zusammenhang bringen wollen. Das erstere ist eine peripher gelegene, bisher kaum bearbeitete und nur noch als Bauruine überlieferte Anlage, während Saint-Denis als die Inkunabel gotischer Baukunst gelten darf und dementsprechend aufmerksam von der Forschung bedacht wurde. Dass ein Vergleich dennoch greift, wenn man sich nur auf die richtigen Fragen einlässt, zeigt Stephan Albrecht in einer glänzenden Studie, in der er das Phänomen der konstruierten Erinnerungsstrategien ins Zentrum rückt. Gleich zu Beginn akzentuiert Albrecht mit zwei Zitaten aus dem umfangreichen Schrifttum zu Saint-Denis den Problemhorizont der Arbeit: Dass Dom Michel Félibien zu Beginn des 18. Jahrhunderts in seiner "Histoire de l'abbaye royale de Saint-Denys" eingehend die weit zurückreichende Tradition der Abtei betonte, markiert den grundlegenden Unterschied zur kunsthistorischen Würdigung aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Otto von Simson die Originalität und Modernität der Bauformen unterstrich.
Unter Rückgriff auf Forschungen zum kollektiven Gedächtnis skizziert der Autor einleitend seine methodische Vorgehensweise und verweist damit auf seine These vom bewusst initiierten und kontrollierten Charakter der memorialen Inszenierung, die nicht nur von der historiographischen Überlieferung, sondern gleichermaßen durch materielle Relikte getragen wird. Gleich zu Beginn schlägt Albrecht eine sinnvolle Einteilung der gegenständlichen Überlieferung in Erinnerungsstücke, Kopien und Memorialbilder vor, "die in ihrer Materie, ihrer Form oder ihrem Inhalt Erinnerung gespeichert haben" (14). Diese Definition steckt den Rahmen einer Interpretation der künstlerischen Mittel nach den Gesichtspunkten ihrer Memorialfunktion ab. Zwei monografisch angelegte Kapitel zu den jeweiligen Abteien bilden die argumentativen Pfeiler der klar gegliederten Studie, der dritte Teil liefert eine vergleichende Synthese anhand der übergreifenden Fragestellung und bettet die Vergangenheitsinszenierung beider Klöster in den jeweiligen regionalen Zusammenhang ein.
Schon auf Grund des unterschiedlichen Forschungsstandes musste das Kapitel zu Glastonbury deutlich ausführlicher ausfallen. Am Ausgangspunkt der Überlegungen zur historiographischen Überlieferung steht eine Phase der Konsolidierung, in der das Kloster nach den umgreifenden Umwälzungen durch die normannische Eroberung die eigene Tradition und Identität gleichsam zurückgewinnen musste. Der drohende kulturelle Verlust der eigenen Sprache, Literatur, Gesetzgebung und Liturgie führte zu einer fieberhaften Rekonstruktion der angelsächsischen Vergangenheit, die eine Generation von spezialisierten Historiographen hervorbrachte und nicht selten den Fälschern neue Wirkungskreise erschloss.
Prinzipiell ist das keine neue Erkenntnis: Beispiele einer absichtsvoll konstruierten, bisweilen auch gefälschten Gründungslegende, um einer Institution eine besonders weit zurückreichende und würdevolle Tradition zu sichern, mit der in der Regel Privilegien, Besitztümer und Vormachtstellungen begründet werden, lassen sich mühelos finden. Der Vorzug der vorliegenden Studie liegt aber in der zusammenfassenden Perspektive, in welcher nicht nur die schriftliche Überlieferung, sondern auch die erhaltenen und erschließbaren Memorialobjekte, die an sie geknüpfte liturgische und paraliturgische Verehrung sowie die Bauformen als Bedeutungsträger berücksichtigt werden.
Obwohl die Voraussetzungen in Saint-Denis andere waren - hier gab es keinen ähnlich markanten Bruch der Überlieferung, aus dem die Erinnerung neu aktiviert werden musste - zeigt die Analyse deutliche Parallelen der Vergangenheitsinszenierung. Vergleichbar ist das Bemühen, mithilfe von immer weiter zurückreichenden Gründungslegenden die schon Jahrhunderte währende Tradition der Abteien zu untermauern, sie an authentische Gründerfiguren - vorzugsweise Heilige oder Apostel - zu binden und für diese auch archäologische Zeugnisse beizubringen. Darüber hinaus erweiterten die Mönche beider Klöster diese sakrale Legitimation um eine reichspolitische Komponente, indem sie das liturgische Gedächtnis auf königliche Fundatoren ausdehnten. Während in Saint-Denis ein dynastisches Argument ausgespielt wurde, das den Anspruch auf die königliche Grablege begründete, berief man sich in Glastonbury nach dem sensationellen Fund des Artusgrabes im Jahr 1191 auf eine mythische, historisch kaum greifbare Figur. Wenig später kam mit Joseph von Arimathia eine weitere prominente Identifikationsfigur hinzu. Wie diese mangels schriftlicher Beweise anhand von manipulierten Fundstücken und einer aufwändigen visuellen Inszenierung mit Bildern, Inschriften, Wappen, Hymnen und Wunderlegenden präsent gehalten wurden, gehört zu den instruktivsten Passagen des Buches. Im Unterschied zu Saint-Denis, wo der Dionysiuskult mit den authentischen Reliquien zu einer allgemein akzeptierten Gründungslegende geführt hat, fehlte in Glastonbury das Heiligengrab, sodass die Synthese aus Identifikationsfigur und gegenständlichen Relikten sehr viel flexibler in immer neuen Anläufen bewältigt werden musste.
Albrechts Analyse erbringt auch überraschend gleichartige Grundmotive der Vergangenheitsinszenierung: Die Verehrung entzündete sich vor allem an den alten Bauten, die den Charakter einer Ursprungsreliquie erhielten. Beide Kultstätten legitimierten sich mit einer Weihelegende, nach der Christus selbst die Weihe vorgenommen hatte, und beide verbinden die Gründung mit dem Motiv der Jagd, in deren Verlauf der Ort der Neugründung von übernatürlichen Erscheinungen vorgegeben wurde. Albrecht arbeitet überzeugend den topischen Charakter dieser Legenden anhand von vergleichbarem Quellenmaterial heraus und macht damit deutlich, dass eine direkte Rezeption wohl auszuschließen ist. Grundsätzlich kann Albrecht zwei wesentliche Phasen der Erinnerungskonstruktion aufzeigen: die Installation des Gedächtnisses in der schriftlichen Überlieferung und dessen Visualisierung in verschiedenen, auch künstlerisch geformten Trägermedien. Das Selbstverständnis, das sich in Chroniken und anderen historiographisch gefärbten Texten spiegelt, muss erst sichtbar in öffentlichen Medien propagiert werden, um die nötige Wirkung zu entfalten und im öffentlichen Bewusstsein präsent zu bleiben. Die Memorialbilder dokumentieren Tradition und machen sie sichtbar.
Dieser zweite Schritt ist aus kunsthistorischer Perspektive selbstverständlich besonders aufschlussreich. Die aufwändigen Neubauten und die damit einhergehende liturgische Ausstattung, die im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts in beiden Klöstern entstanden ist, verortet Albrecht zwischen dem Anspruchsniveau repräsentativer Bauformen und dem Rückbezug auf die überlieferte Tradition. In einer eindringlichen Architekturanalyse zum Kirchenbau in Glastonbury gelingt es Albrecht, das fragile Gleichgewicht zwischen Tradition und Innovation aufzuzeigen und dabei gleichzeitig die geradlinige Stilchronologie zu revidieren. Nachdem die Abtei im Jahr 1184 beinahe vollständig abgebrannt war, musste die architektonische Formensprache den Verlust des überlieferten und verehrten Baubestandes ausgleichen. Das unterschiedliche Formenrepertoire der Abteikirche und der angrenzenden Marienkapelle interpretiert Albrecht als bewusst gewählten Formkontrast mit dem die Marienkapelle als Nachfolgebau der Gründungsanlage etabliert wurde.
Förderte die Brandkatastrophe in Glastonbury gewissermaßen einen günstigen Neubeginn, stand in Saint-Denis der verehrte Altbau einem ähnlich radikalen Einschnitt entgegen. Dennoch gelang es der Abtei unter dem maßgeblichen Einfluss Abt Sugers, beide Bedürfnisse zu vereinen. Hier erbringt die Beschreibung einen bewussten Umgang mit Spolien des Vorgängerbaus und der Inszenierung der alten Ausstattungselemente. Als Ergebnis entstand ein hochmoderner Bau, der in der liturgischen Ausstattung auf der Tradition des Klosters beharrte. Was der Leser in diesem Zusammenhang noch wünschen würde, ist eine ausführlichere Reflexion über das Verhältnis zwischen der Erinnerungskultur einerseits und den ganz pragmatischen Überlegungen und den theologisch-philosophischen Standpunkten des Abtes Suger andererseits, wie sie in den Quellen überliefert sind.
Stephan Albrecht hat eine materialreiche, überzeugend argumentierende und sauber am Quellenmaterial belegte Studie vorgelegt, die neue Ansätze zur Bewertung der mittelalterlichen Bildproduktion und Architektur erbringt. Er schließt damit eine Forschungslücke zur Abtei in Glastonbury und steuert am Beispiel von Saint-Denis neue Aspekte zu einem längst bestellt geglaubten Feld der Architekturgeschichte bei, indem er diese Abtei nicht allein unter den Vorzeichen ihrer stilgeschichtlichen Modernität beleuchtet. Ein besonderes Verdienst der Arbeit liegt darin, dass dieser differenzierende Blick die gesamte Bandbreite der Inszenierungsmöglichkeiten erschließt, das Zusammenspiel von Bild, Form, Material und liturgischer Nutzung zum Sprechen bringt und damit neue Einsichten zum Verhältnis von Tradition und Innovation gewinnt.
Viola Belghaus