Rezension über:

Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, 300 S., ISBN 978-3-534-13837-1, EUR 64,00
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Rezension von:
Maritta Iseler
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Maritta Iseler: Rezension von: Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/7523.html


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Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland

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Auch wenn heute immer mehr Kommunen durch das Angebot eines virtuellen Rathauses im Internet vertreten sind - von den Vor- und Nachteilen neuer Bürgernähe, dem Wegfall langer Wartezeiten oder persönlicher Betreuung soll hier gar nicht die Rede sein -, wird das Gebäude Rathaus seine zentrale Bedeutung für die Stadtgemeinden in Zukunft behalten: Es ist politischer Mittelpunkt ebenso wie Sinnbild bürgerlich-städtischer Identität, Freiheit, Demokratie und Mitbestimmung. Die heute noch oftmals stattfindende Rückprojizierung dieser Symbolik auf das mittelalterliche Rathaus entstammt einem Mythos, ist eine Vorstellung der romantisch geprägten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Der Leser aus dem Fachpublikum des hier vorzustellenden Buches von Stephan Albrecht nimmt daher dankbar zur Kenntnis, dass der Autor gleich zu Beginn darauf hinweist: die Entstehung des Rathauses im Mittelalter sei nur zu verstehen, wenn man sich die Unterschiede zum modernen Rathaus bewusst mache (7).

Maßgeblich für die Gestalt des Verwaltungsgebäudes - das Bedürfnis nach einem Rathaus (domus civium, domus consulum) wuchs mit dem Aufkommen der Ratsverfassung (Konsulat) seit dem Ende des 12. Jahrhunderts - waren die kommunalen Handlungsfelder, das Selbstverständnis des Rates und dessen politische Position. Der Stadtrat regierte im Mittelalter neben dem Stadtherrn, übernahm zwar allmählich stadtherrliche Befugnisse und Ämter, trat jedoch nicht an seine Stelle. In Würzburg zum Beispiel verhinderte der mächtige Bischof einen eigenständigen Rathausbau, während anderswo die Initiative für einen Neubau vom Stadtherrn ausging (Marburg). Innerhalb der Stadt entwickelte sich der Rat, der ursprünglich Gemeindevertreter war, im Laufe des 13. Jahrhunderts zur Obrigkeit. Es ist ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht: Stadtherr - Rat - Bürger - Nichtbürger. Entsprechend unterschiedlich sind die Voraussetzungen, die im Mittelalter in Deutschland zum Bautyp Rathaus geführt haben.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches stehen Fragen nach dem Wesen und dem Selbstverständnis des Rates als Bauherrn, nach der Zweckbestimmung der Gebäude, deren Rolle im öffentlichen Leben der Stadt, nach der Herkunft der Formen und ihrer Rezeption. Albrechts vorrangiges Interesse gilt der Erfassung des Materials - ohne Anspruch auf Vollständigkeit (8). "Die kunst- und kulturgeschichtliche Stellung des mittelalterlichen Rathauses" betitelt der Autor den ersten komparativen Teil, der einen Überblick über die Gestaltungen und Funktionen gibt. Im zweiten, weitaus umfangreicheren Abschnitt werden die einzelnen Rathäuser in ihrem regionalen Zusammenhang katalogartig vorgestellt. Die geografische Beschränkung umfasst die Städte deutschen Rechts, die zeitliche Obergrenze bildet die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der Behördengebäude mit Dienststuben konzipiert wurden.

Und hierin liegt die besondere Leistung der Publikation: Albrecht rückt ein Forschungsfeld der Stadt- und Architekturgeschichte ins Licht, nachdem es Jahrzehnte nur in regionalem Kontext oder monografisch aufgegriffen wurde. [1] Die letzte gesamtdeutsche vergleichende Studie über das mittelalterliche Rathaus erschien vor sechzig Jahren. [2] Ein solches Projekt bietet einige Schwierigkeiten, denen sich Albrecht durchaus bewusst ist. Kaum eine andere profane Baugruppe hängt derart von den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und örtlich-künstlerischen Bedingungen ab. Sie kann nur interdisziplinär und im Zusammenhang mit der regionalen Entwicklung betrachtet werden. Dementsprechend gliedert Albrecht die Materie in einzelne Kapitel wie "Rathäuser im südlichen Ostseeraum" oder "Magdeburg und die brandenburgischen Rathäuser". Wobei hier bemerkt sei, dass die regionale Zuordnung nicht immer nachvollziehbar oder das lapidar anmutende "Der Osten" unbefriedigend ist. Die jeweiligen unterschiedlichen Forschungsstände bedingen die unterschiedliche Quantität der Texte. Dies liegt nicht zuletzt am Erhaltungszustand der Gebäude selbst. Die Nutzungskontinuität sorgte zwar für den Erhalt vieler Rathäuser, erforderte aber auch zahlreiche Umbauten. Die Bausubstanz vor allem aus dem 13. Jahrhundert ist, wenn überhaupt, nur minimal erhalten. Die Regotisierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts haben die Situation nicht verbessert.

Angesichts der verkürzten Darstellung der Baugeschichten bleiben viele Aspekte zwar nur vage angesprochen; der ein oder andere Leser wird sich vermutlich mehr Tiefe, besonders in Bezug auf die historischen Zusammenhänge wünschen. Dennoch kann, und das ist auch die Intention des Autors, das handliche, reich bebilderte Buch als Einstieg in die Thematik benutzt werden. Albrecht erschließt den wichtigsten Bestand an Rathäusern und dokumentiert den aktuellen Forschungsstand, indem er sich auf neue archäologische sowie bauforscherische (darunter auch lokale und unveröffentlichte) Untersuchungen stützt - diese sind allerdings wegen des reduzierten Anmerkungsapparats nicht leicht zurückzuverfolgen.

Albrecht formuliert zu Beginn seines Kapitels über die Gestalt der Rathäuser eine wichtige Erkenntnis: "Die Entstehung der Bauaufgabe Rathaus entsprang nicht einer funktionalen Notwendigkeit, sondern einem repräsentativen Willen zur Selbstdarstellung des Rates" (25). Verwaltungsgebäude, Gerichtsort, Versammlungsstätte, Kaufhaus, auch Zeughaus und Festsaal mit Weinkeller, all dies war das Rathaus. Die komplexen Aufgaben hätten in anderen Gebäuden erledigt werden können - so Albrechts Argumentation -, wie es in weiten Teilen Frankreichs und Englands der Fall war. Nur ein Beispiel: Das Ratsgebäude entwickelte sich oft zum wichtigsten Kaufhaus der Stadt (das monumentalste Beispiel dafür ist wohl Thorn), darin dokumentierte der Rat seine Kontrolle über die Handels- und Markttätigkeit. Wo das städtische Kaufhaus in einem anderen Gebäude untergebracht war, scheinen stadtherrliche Vorgaben ausschlaggebend gewesen zu sein (die kaiserlichen Städte Speyer, Aachen oder die Bischofstadt Mainz).

Noch ein interessanter Aspekt sei herausgegriffen. Albrecht erkennt, dass die Gestalt der sehr ausführlich behandelten Bauteile für das politische Zeremoniell und für die Ausübung der Gerichtsbarkeit - die vom Autor so genannten Formen der Öffentlichkeit: Gerichtslaube, Turm und Freitreppe - "nur sehr selten [...] unmittelbar den Vorgaben der Funktion" (37) folgen, sondern vielmehr der bereits etablierten Tradition. Die Gestalt entspricht dem Zweck, verselbstständigt sich aber im 15. Jahrhundert. Die Funktionslosigkeit der Laube in Lüneburg (103) und des Treppenpodestes in Dettelbach zeugen davon (204 f.).

Trotz der Vielgestaltigkeit der Rathäuser, die vom einfachen Saalgeschossbau bis zum umfangreichen Baukomplex reicht, kristallisieren sich bei der vergleichenden Untersuchung regionale Phänomene heraus, die hier als Letztes noch angesprochen sein sollen. Neben den örtlichen künstlerischen Voraussetzungen, die das jeweilige Aussehen prägen - im Nordosten ist Back- und Werksteinbau, im Südwesten Fachwerkbau vorherrschend -, treten vor allem bei der Verwendung von Laube und Turm Unterschiede zwischen Ober- und Niederdeutschland deutlich zu Tage. Auch wenn für Urteile über Normen und Devianzen derzeit noch zu viele Einzelstudien fehlen, ist es Albrechts Verdienst, das breite Spektrum an architektonischen Ausprägungen mittelalterlicher Rathäuser in Deutschland, eingebettet in ihren zeitgenössischen Kontext und mit neuen Erkenntnissen, aufgezeigt zu haben.


Anmerkungen:

[1] Beispielsweise (unter Beteiligung von Stephan Albrecht): Mittelalterliche Rathäuser in Niedersachsen und Bremen: Geschichte - Kunst - Erhaltung, hrsg. von Ursula Schädler Saub / Angela Weyer, Petersberg b. Fulda 2003; Frank-Dietrich Jacob / Hans-Joachim Krause: Ostdeutsche Rathäuser, Leipzig 1992; Köln: Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung (= Stadtspuren. Denkmäler in Köln; Bd. 26), hrsg. von Walter Geis / Ulrich Krings, Köln 2000; Tom Lauerwald / Angelika Kern / Andreas Kern: Das gotische Rathaus in Meißen. Archivalien und Baubefunde, Marburg 1999.

[2] Karl Gruber: Das deutsche Rathaus, München 1943.

Maritta Iseler