Susannah R. Ottaway: The Decline of Life. Old Age in Eighteenth-Century England (= Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time; 39), Cambridge: Cambridge University Press 2004, XIV + 322 S., ISBN 978-0-521-81580-2, GBP 50,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Simone Moses: Alt und krank. Ältere Patienten in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen zur Zeit der Entstehung der Geriatrie 1880 bis 1914, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Eduard Seidler / Karl-Heinz Leven: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7., überarb. und erw. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer 2003
Alois Unterkircher: Jungen und Männer als Patienten bei einem Südtiroler Landarzt (1860-1900), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014
Das höhere Lebensalter als Kategorie historischer Analyse ist lange Zeit von der Geschichtswissenschaft vernachlässigt, wenn nicht gar ausgeblendet worden. Susannah R. Ottaway verschärft im Nachwort ihres neuen Buches (277-283) diese sicher unbestreitbare Behauptung, wenn sie diesen Zustand auch noch für die Gegenwart konstatiert. Angesichts der mindestens 34 Monografien und Sammelbände zum Thema Alter in der europäischen Geschichte, die in den letzten dreißig Jahren erschienen sind, scheint dies zunächst eine Klage auf hohem Niveau zu sein; verglichen mit der vielfachen Zahl an Publikationen zur Geschichte der Kindheit ist sie aber sicherlich berechtigt. Mentalitätsgeschichtliche Parallelen zu diesem Phänomen sind nicht zufällig: Bereits im 18. Jahrhundert stellte etwa der italienische Arzt Antonio Fracassini ein mangelndes Interesse an der Altersmedizin fest, während die pädiatrische Literatur uferlos sei. [1]
Sicherlich sind auch verschiedene Epochen der europäischen Altersgeschichte unterschiedlich intensiv untersucht worden. Insbesondere offenbart sich, abgesehen von kleineren Lokalstudien, bezüglich der Frühen Neuzeit (im Gegensatz etwa zum Mittelalter oder zur Moderne ab 1800) eine deutliche Lücke in der Sozialgeschichte des Alters (übrigens genauso wie in der Medizingeschichte [2]). Selbst umfangreiche Darstellungen wie die jüngst von Pat Thane vorgelegte Studie [3] widmen dieser Zeit nur verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit. Insofern hat Ottaway mit ihrer überarbeiteten Dissertation (Brown University, 1998) eindeutig Neuland betreten und nach Meinung des Rezensenten auch einen zukünftig nicht zu übergehenden Meilenstein in der gerontologischen Geschichtsschreibung gelegt. Zu diesem Gesamturteil trägt nicht nur die klare Gliederung und der angenehm flüssige Schreibstil der Autorin bei, sondern insbesondere die erfreulich breite Anlage des Buches: Angesichts des enormen Trends zu Spezialstudien gerade auch in der Sozialgeschichte bedeutet es heutzutage ein Wagnis, ganz England über ein gesamtes Jahrhundert zum Untersuchungsgegenstand zu erklären. Ottaway löst dieses Versprechen mithilfe eines umfangreichen Quellenspektrums im Wesentlichen auch ein. Sie bietet ihren Lesern eben nicht nur quantitative Untersuchungen zur Armenversorgung und zu Arbeitshäusern in verschiedenen Kirchspielen Englands, sondern auch eine qualitative Auswertung von Quellen privater Provenienz. Zu den Letzteren zählen einerseits Tagebücher und Testamente, die exemplarisch Verhaltensweisen einzelner alter Menschen dokumentieren; dadurch betont die Autorin bei aller Normierung durch sozioökonomische Rahmenbedingungen die große Bedeutung individueller Lebensentwürfe von alten Menschen auch im 18. Jahrhundert. Andererseits werden auch einzelne normative Quellen aus Medizin, Jurisprudenz und dem Sozialwesen herangezogen, also im weitesten Sinne kulturgeschichtliche Einflüsse berücksichtigt.
Dies findet insbesondere im ersten Kapitel seinen Niederschlag, das die methodisch wichtige Frage untersucht, wer denn überhaupt im England des 18. Jahrhunderts "alt" war, das heißt so bezeichnet wurde oder sich selbst so einstufte. Ottaway unterscheidet hier mit Recht funktionale, kulturelle und kalendarische Kategorien. Überraschend ist bei Letzterer nicht nur, dass abgesehen von subjektiven Stilisierungen in der Praxis häufig erst das 60. Lebensjahr als Beginn des höheren Lebensalters angesehen wurde; bemerkenswert ist auch, dass entgegen landläufiger Erwartungen Menschen aller sozialer Schichten schon erstaunlich genau über ihr wahres Alter Bescheid wussten. Die zunehmende Chronologisierung der Altersdefinition äußert sich konsequenterweise auch in einer wachsenden Bereitschaft, das numerische Alter als alleinigen Maßstab für den Beginn von Pensionen und öffentlicher Unterstützung zu akzeptieren, eine Vorstellung, die freilich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts reale Gestalt annahm.
Das folgende Kapitel untersucht gesellschaftliche und individuelle Einstellungen zum Alter. Im Blick auf die Wahrung ihrer allgemein akzeptierten Autorität neigten alte Menschen zur Selbstständigkeit bis ins höchste Alter, die hauptsächlich durch kontinuierliche Arbeit, seltener durch Pensionen und Ersparnisse aufrechterhalten wurde. Die Realisation dieses Ideals war allerdings in hohem Maße schicht- und geschlechtsabhängig. So ist es nicht verwunderlich, dass Arme sowie Frauen aller Schichten im höheren Lebensalter häufiger in Abhängigkeit von anderen gerieten, ein Prozess, dem man beispielsweise durch die in Eheverträgen immer detaillierter geregelte Witwenversorgung entgegenzusteuern versuchte (Kapitel 3).
Die familiäre Einbindung älterer Menschen spielte im 18. Jahrhundert zwar eine bedeutende Rolle. Allerdings verband sich damit eher selten auch eine wirtschaftliche Abhängigkeit der Alten; vielmehr unterstützten sie häufig ihre Angehörigen. Erst in physischen und ökonomischen Krisen konnte sich das Blatt wenden; doch kam es im Fall großer Armut auch zu einem Versagen familiärer Hilfe. Neben der Kernfamilie besaßen entfernte Verwandte eine überraschend große Bedeutung bei der Versorgung alter Menschen (Kapitel 4). War eine familiäre Unterstützung nicht möglich, trat die gesetzlich geregelte Armenfürsorge ein. In diesem Zusammenhang offenbart sich eine der bemerkenswertesten Diskontinuitäten im 18. Jahrhundert: Während zu Beginn weniger als 10 % der Alten öffentliche Unterstützung benötigten, waren es am Ende des Jahrhunderts als Folge ökonomischer Krisen bis zu 30 %, wobei in südlichen, industrialisierten Regionen die Quote deutlich höher ausfiel als im ländlichen Norden. Mit der quantitativen Zunahme zu unterstützender alter Menschen sank der Umfang der gewährten Hilfe (Kapitel 5 und 6). Als Alternative zur kostspieligen "ambulanten" Unterstützung wurde in regional unterschiedlichem Ausmaß eine Unterbringung alter Menschen in Arbeitshäusern etabliert, die allerdings trotz der verhältnismäßig guten Versorgung wenig beliebt war (Kapitel 7).
Diese kurze Charakterisierung kann der Fülle von oft überraschenden Detailergebnissen Ottaways nicht gerecht werden, die auch in zahlreichen Tabellen und Grafiken anschaulich gemacht werden. Natürlich fällt es angesichts des thematischen Umfangs nicht schwer, Lücken in der Darstellung, manches Mal auch in der Argumentation zu finden. So vermisst der Medizinhistoriker eine detailliertere Darstellung der heilkundlichen Perspektive - in der Regel werden nur populäre allgemeinmedizinische Werke herangezogen und die durchaus vorhandene, aber weniger bekannte Spezialliteratur zum Alter (und auch die entsprechende Sekundärliteratur, etwa von Michael Stolberg) übergangen. [4] Zwar wird auf die Wirksamkeit traditioneller Anschauungen immer wieder beiläufig eingegangen, doch fehlen - angesichts der sozialhistorischen Fokussierung nicht verwunderlich - verschiedentlich Hinweise auf wesentliche Kontinuitäten, etwa zur "Krankheit Alter". [5] Und schließlich fällt auf, dass auf die Auswertung lateinischer Quellen gänzlich verzichtet worden ist - und diese spielen im 18. Jahrhundert selbst in England eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vielleicht noch unbefriedigender ist die Tatsache, dass die Autorin nach Ausweis des umfangreichen Literaturverzeichnisses außer einigen wenigen französischen Studien keinerlei fremdsprachliche Sekundärliteratur berücksichtigt.
Diese eher beiläufigen Kritikpunkte vermögen aber das abgerundete Bild, dass man von der breiten sozialhistorischen Durchdringung des Themas insbesondere im Blick auf Familienhistorie, Geschlechtergeschichte, Frauengeschichte und historische Demografie gewinnt, nicht nachhaltig zu stören, sodass nicht nur Experten, sondern allen an der Epoche Interessierten die Lektüre nachdrücklich empfohlen werden kann.
Anmerkungen:
[1] Antonio Fracassini: Opuscula physiologico-pathologica. Dissertationes tres exibentia I. De affectionibus infantiae ac pueritiae, II. De affectionibus senectutis III. De visionis sensorio. Veronae: Ex typographia Marci Moroni 1763, 1.
[2] Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase, Frankfurt am Main 2004, 21-24.
[3] Pat Thane: Old Age in English history. Past experiences, present issues, Oxford 2000.
[4] Michael Stolberg: A women's hell? Medical perceptions of menopause in preindustrial Europe, in: Bulletin of the History of Medicine 73 (1999), 404-428.
[5] Daniel Schäfer: "That senescense itself is an illness ...". Concepts of Age and Ageing in Perspective, in: Medical History 46 (2002), 525-548.
Daniel Schäfer