Ulrike Gentz: Der Hallenumgangschor in der mitteleuropäischen Backsteinarchitektur 1350-1500. Eine kunstgeographisch vergleichende Studie (= Studien zur Backsteinarchitektur; 6), Berlin: Lukas Verlag 2003, 360 S., 200 Abb., ISBN 978-3-931836-75-7, EUR 36,00
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Von Kaiser Karl IV. heißt es, dass er Zeit seines Lebens um sich herum Baulärm auszulösen wusste, ohne dabei notwendig selbst an all diesen Bauten direkt beteiligt gewesen zu sein. Auffällig ist dies bei so prominenten Bauwerken wie der Aachener Chorhalle oder deren typenbildender Rezeption im Hallenumgangschor von St. Sebald in Nürnberg. Um 1355 begonnen oder geplant, dem Jahr der Kaiserkrönung Karls IV., zählen beide zu den herausragenden Vertretern der "karolinischen Reichsarchitektur" (Bachmann), ohne dass eine direkte Beteiligung des Kaisers dort belegt wäre. Vor allem dieser "neue" Bautypus des Hallenumgangschors machte in der Folge Karriere, so in der Mark Brandenburg mit dem Übergang der Landesherrschaft von den Wittelsbachern an die Luxemburger, an Karl IV. Als Initialbauten einer in der Folge nahezu flächendeckenden Verbreitung von Hallenumgangschören in der Mark Brandenburg gelten die Marienkirche in Frankfurt an der Oder und die Nikolaikirche in Berlin: Baulärm also auch in der Mark Brandenburg.
Die Ergebnisse einer dendrochronologischen Untersuchung rückten nun ein vermeintlich baukünstlerisches Leichtgewicht in die vorderste Reihe: St. Nikolai in Berlin-Spandau. Auf Altarstiftungen von 1424 und 1432 gründete die Annahme eines Baubeginns im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Mit der dendrochronologischen Datierung des Dachwerks auf 1368/69, zu diesem Zeitpunkt muss die Kirche also zumindest im Rohbau gestanden haben, gehört die Nikolaikirche in Berlin-Spandau zu den frühesten Hallenumgangschören in der Mark Brandenburg. Vielleicht ist es auch "der" früheste - dies vermutet Ulrike Gentz in ihrer Greifswalder Dissertation aus dem Jahre 2001 über den Hallenumgangschor in der Backsteinarchitektur Mitteleuropas. Die Arbeit erscheint als sechster Band der "Studien zur Backsteinarchitektur", einer von Ernst Badstübner und Dirk Schumann bestens betreuten Reihe, die erste Adresse zum Thema Backsteinarchitektur.
Mitteleuropa meint hier: die Mark Brandenburg, die Lausitz, Niederschlesien und Altbayern. Sehr weit gefasst ist dagegen der Terminus "Hallenumgangschor", der auch die Dreiapsidenchöre der Marienkirchen in Prenzlau und Herzberg einschließt, denn diese erlauben "durch ihre im Chorbereich geöffneten Seitenapsiden die Assoziation der Öffnung eines Binnenchores in einem Umgang" (227). Gentz spricht von "Hallenkirchen mit reduzierten Chorumgang" (374). Sie tut das auch dann, wenn wie in der Jakobskirche in Straubing ein Hallenumgangschor voll ausgebildet ist, aber keinen aus einem regelmäßigen Polygon gebildeten inneren Stützenkranz aufweist. Tatsächlich, so Gentz, besetzten in diesem unregelmäßigen dreiseitigem Schluss "die zwei östlichen Rundpfeiler grundrissgeometrisch eine Gerade, die konisch von den axial angeordneten, westlichen Freistützen auf die Choraußenwand zuführt" (374); gegen diese Auffassung spricht freilich der Verlauf der Scheidarkatur. Mit diesen Beispielen sollten die Schwierigkeiten einer begrifflichen Abgrenzung deutlich geworden sein, deren weite Auslegung aber konstitutiv ist für das erklärte Ziel dieser Arbeit, "unter Berücksichtigung der gegebenen historischen, ökonomischen und bauarchäologischen Voraussetzungen, einen umfassenden kunstgeografischen Überblick über die wahrscheinlichen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge der diversen mitteleuropäischen Backsteinlandschaften zu verschaffen" (30). Das ist der Verfasserin mit dieser historisch fundierten und erstmals auch die sonst nur am Rande erwähnten Bauten vor allem Niederschlesiens und der Lausitz umfassenden Arbeit auch glänzend gelungen, gerade weil sie den Blick (wieder) öffnet auf einstmals im Mittelalter kulturell eng verknüpfte Kunstregionen, deren Verbindungen durch die Geschichte der Neuzeit aber aus dem Blickfeld geraten sind.
Zu ihrer Vorgehensweise erläutert Gentz: "Die methodischen Grundlagen dieses primär auf vergleichende kunstlandschaftliche Architekturverbindungen konzentrierten Beitrages bilden jedoch weniger die bauhistorischen und funktionsbedingten Studien einzelner Kirchenbauten, [...] sondern vor allem die bauanalytischen Untersuchungen der jeweiligen Grund- und Aufrissgeometrien." (30) Damit stellt sie nach all den ikonographielastigen und den Gerstenberg'schen Einheitsraumgedanken nachspürenden Arbeiten wieder eine Besonderheit dieser Bauten in den Vordergrund: ich meine die nicht radiale Disposition der Chöre, die Divergenz zwischen innerem und äußerem Polygon, Gentz spricht von "ungleichzahligen Chorschlüssen", deren Einwölbung ja erst die jochübergreifenden Gewölbelösungen, ausgehend von den so genannten Zweiparallelrippengewölben des Prager Domchores, ermöglichten.
Ganz anders noch im ersten Hallenumgangschor in Verden an der Aller (1273-1313) mit seiner radialen Ausstrahlung eines inneren 5/10 Chorschlusses mit Halbjoch auf die ebenfalls über fünf Seiten eines regelmäßigen Zehnecks gebrochene Außenwand in der Nachfolge der klassischen Kathedralen Frankreichs, insbesondere der Kathedrale von Reims, also eines basilikalen Vorbilds. Eine Nachfolge der Verdener Lösung findet sich einzig im Hallenumgangschor von St. Marien in Stendal zu Beginn des 15. Jahrhunderts, also erst hundert Jahre später. Verden an der Aller steht damit zwar am Anfang aller Hallenumgangschöre in Deutschland, lässt sich aber kaum als "gestalterischer Ausgangspunkt" ansehen, dem dann "zwei aufeinanderfolgende rezessive Phasen" (176) folgten. Es führt kein Weg von Verden nach St. Sebald in Nürnberg und zu den Hallenumgangschören mit divergierenden Polygonen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; vielmehr setzte mit St. Sebald etwas neues ein, das in der Folge unabhängig von französischen Vorbildern zum führenden Bautypus in der städtischen Backsteinarchitektur avancierte, in der Mark Brandenburg, in der Lausitz, in Niederschlesien und in Altbayern. Diese Wege nachgezeichnet zu haben, ist das große Verdienst dieser Greifswalder Dissertation.
Leonhard Helten