Ian Stuart Robinson (Hg.): Bertholds und Bernolds Chroniken (= Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe; Bd. XIV), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, 453 S., ISBN 978-3-534-01428-6, EUR 69,00
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Ian S. Robinson (Hg.): Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz 1054-1100 (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum. Nova Series; XIV), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2003, X + 645 S., ISBN 978-3-7752-0214-5, EUR 60,00
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Was zunächst aussieht wie eine versehentliche Doppelung desselben Titels, sind tatsächlich zwei Editionen derselben Werke durch denselben Editor, die im Abstand von nur einem halben Jahr in zwei Editionsreihen unterschiedlichen Zuschnitts publiziert worden sind. Der Zufall wollte es, dass beide Quellenausgaben in der jeweiligen Reihe auch noch dieselbe Bandnummer erhielten. Noch kurioser wird dieser einmalige Fall dadurch, dass der lateinische Text in der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe von 2002 (künftig WBG-Edition) nicht - wie zu erwarten wäre - identisch ist mit dem Text der kritischen Ausgabe, die bei den Monumenta Germaniae Historica 2003 erschienen ist (künftig MGH-Edition), sondern eine schlechtere Vorstufe darstellt. Robinson hatte sein Editionsmanuskript bereits 1986 bei den MGH abgeliefert. Nachdem es dort nach 15 Jahren immer noch nicht erschienen war, sorgte Robinson schließlich für das Erscheinen seiner Textausgabe inklusive der von ihm und seiner Frau angefertigten Übersetzung bei der WBG. Bei den MGH war das Editionsmanuskript von 1986 immer wieder eingehenden Prüfungen und notwendigen Überarbeitungen unterzogen worden, die zuletzt in den Händen von Detlev Jasper lagen. Dabei gelangte Jasper partiell zu einer Neubewertung der Überlieferungslage mit entsprechenden Folgen für die Konzeption der Einleitung, für die Textgestaltung und für den Variantenapparat, der von allen überflüssigen Varianten abhängiger Textzeugen bereinigt wurde. Von ihm wurde auch der Kommentar auf den neuesten Literaturstand gebracht.
Im Ergebnis liegt mit der MGH-Edition also die einzig gültige und zitierfähige textkritische Ausgabe vor, während der Wert der WBG-Edition in der beigegebenen Übersetzung liegt. Gegenüber den letzten Versuchen aus dem 19. Jahrhundert stellt diese Übertragung ins Deutsche aufgrund ihrer Präzision und ihres gut lesbaren Stils allerdings einen deutlichen Qualitätssprung dar. Die sonstige Ausstattung des WBG-Bandes lässt abgesehen vom Namens- und Ortsregister sehr zu wünschen übrig. Die Einleitung ist ausgesprochen knapp gehalten, ein Siglenverzeichnis fehlt. Die Sachanmerkungen sind auf das Notwendigste beschränkt und kommen den Gepflogenheiten der Reihe entsprechend ohne jeden Literaturhinweis aus. Das Literaturverzeichnis selbst umfasst nur etwas mehr als eine Seite und ist inhaltlich veraltet. Noch ärgerlicher ist das Fehlen von Jahresangaben in der Kopfzeile des Editionsteils, die man für einen raschen Zugriff auf bestimmte Textstellen zwingend benötigt und die sich in früheren Bänden der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe selbstverständlich finden.
Berthold von der Reichenau (gestorben 1088?) und Bernold von Konstanz (beziehungsweise von St. Blasien, gestorben 1100) sind als Fortsetzer der Chronik Hermanns des Lahmen (gestorben 1054) die wichtigsten Repräsentanten der so genannten Bodenseechronistik und zugleich engagierte Parteigänger für die gregorianische Reformbewegung im römisch-deutschen Reich, besonders im schwäbischen Raum. Die vorrangige Verehrung beider Chronisten gilt den Taten und der Reformgesinnung Rudolfs von Rheinfelden (gestorben 1080), seit 1057 Herzog von Schwaben und seit 1077 König gegen Heinrich IV. (gestorben 1106). Zusammen mit den Annalen Lamperts von Hersfeld und Brunos Buch vom Sachsenkrieg gehören die Chroniken Bertholds und Bernolds somit zu den profiliertesten antiheinrizianischen Quellen aus der Zeit des Investiturstreits und stehen seit jeher im Mittelpunkt des Forschungsinteresses.
Letztmalig gemeinsam ediert wurden Bertholds Werk (als Bertholdi Annales) und Bernolds Chronik im Jahr 1844 durch Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 5, 264-326 Berthold; 385-467 Bernold; zur gesamten Druckgeschichte beider Chroniken: MGH-Edition, 118-127). Allerdings gibt die Ausgabe von 1844 nur für Bernolds Chronik die Überlieferungslage einigermaßen korrekt wieder, weil Pertz dem Autograf folgte. Bezogen auf Bertholds Chronik ist nach heutigem Kenntnisstand das Überlieferungsbild hingegen gleich in mehrfacher Hinsicht verfälscht dargestellt, sodass eine Neuedition dringend erforderlich wurde.
1) Von Bertholds Chronik existieren zwei Fassungen, eine kürzere mit einem Berichtszeitraum von 1054 bis 1066 und eine längere mit einem Berichtszeitraum von 1054 bis 1080. Bei der kürzeren Fassung handelt es sich um eine jahrweise Fortsetzung der Chronik Hermanns des Lahmen, die mitten im Bericht zu 1066 abbricht. Die in ihr zu Tage tretenden Ansichten des Autors sind noch stark geprägt von den "vorgregorianischen Reformideen" bei einer prinzipiell königstreuen Haltung. Diese kürzere Fassung ist nur noch in einem Druck von 1529 erhalten (Johannes Sichard = Si). Pertz sah die kürzere Fassung zwar als das einzig authentische Stück der "Annales Bertholdi" an, hat deren Textbild aber dennoch verschleiert, indem er die Texte beider Fassungen für seine Edition ineinander schob. Erst Georg Waitz hat die erste Berthold-Fassung im Jahr 1881 separat ediert (MGH Scriptores 13, 730-732).
2) Die längere Fassung (von 1054 bis 1080 reichend) ist dadurch entstanden, dass Berthold seine eigene Chronik ganz im Sinne der gregorianischen Reform gründlich überarbeitet (wohl bald nach April 1073) und verlängert hat. Die veränderte Sichtweise des Autors auf bestimmte Ereignisse wird im Vergleich besonders deutlich bei der Beschreibung von Heinrichs III. Tod 1056, beim Bericht über die Reformgesetzgebung Papst Nikolaus' II. 1058 und bei der Schilderung des Cadalus-Schismas, der Doppelwahl Alexanders II. und Honorius' II. im Jahr 1061. Außerdem hat Berthold seiner redigierten Chronikfassung eine kurze Vita seines Lehrers Hermann des Lahmen vorangestellt (bester Textzeuge: London, British Library, Egerton 1944 = C; nur für die MGH-Edition benutzt; für die WBG-Edition ist eine schlechtere Handschrift herangezogen worden). Bedeutende Geschichtsforscher nach Pertz sprachen Berthold die Verfasserschaft für die von 1054 bis 1080 reichende zweite Chronikfassung ebenso ab wie die Autorschaft für die Hermanns-Vita. Dieser Streit um die Verfasserfrage beschäftigte die Zunft über ein Jahrhundert (MGH-Edition, 27-38). Robinson hat nun gestützt auf diverse Vorarbeiten die Autorschaft Bertholds für beide Chronikfassungen sowie für die Vita Hermanni einwandfrei erwiesen (MGH-Edition, 38-80 auch zu Inhalt, Quellen und Stil; WBG-Edition S, 1-8).
3) In einem Wiener Codex aus dem 16. Jahrhundert ist nach Robinson die reinste und vollständigste Form von Bertholds Chronik in der Langfassung (1054 - 1080) bewahrt (Wien, ÖNB, Cod. 3399 = A), während Pertz sich noch auf einen schlechteren Textzeugen stützte (Sarnen - Bibliothek des Kollegiums, Cod. Membr. 10 = B; zur handschriftlichen Überlieferung: MGH-Edition, 3-26; WBG-Edition, 8 ff.).
Diesem Kenntnisstand entsprechend werden in den zwei Neueditionen von Robinson erstmals die beiden Chronikfassungen getrennt geboten, die Vita Hermanni der zweiten Berthold-Fassung vorangestellt und die zweite Version der Berthold-Chronik nach einer neuen Leithandschrift ediert. Das Druckbild weicht in beiden Ausgaben allerdings voneinander ab: in der WBG-Edition sind die Fassungen hintereinander gedruckt (Berthold I, 20-33, Berthold II mit der vorangestellten Vita Hermanni, 26-277, jeweils mit Übersetzung), in der MGH-Edition zur Verdeutlichung der Unterschiede zwischen den beiden Fassungen in zweispaltigem Paralleldruck für die Jahre 1054-1066 (163-203).
Im Vergleich zu den Problemen um Bertholds Werk, ist die Verfasserschaft Bernolds von Konstanz für seine Chronik seit der Edition von Pertz endgültig gesichert und die Überlieferungslage unkompliziert, denn das Werk ist in voller Länge (1-1100) im Autograf überliefert (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 432, fol. 24v - 79v = M; ausführliche Beschreibung MGH-Edition, 81-88). Darüber hinaus ist im Codex Sarnen (= B, siehe oben) für die Jahresberichte 1080-1091 eine frühere Fassung bewahrt worden, die der Autor bei seinem Wechsel in das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen im Jahr 1091 im Kloster St. Blasien zurückgelassen haben könnte. Die Unterschiede zwischen dieser frühen Fassung und der im Autograf bewahrten späteren bieten interessante Einblicke in die Arbeitsweise des Chronisten (zur sonstigen handschriftlichen Überlieferung: MGH-Edition, 88-99; WBG-Edition, 14 f.). Deswegen ist die Abschrift B in der MGH-Edition mit allen abweichenden Lesarten berücksichtigt (vergleiche 127 f.), während in der WBG-Edition nur einige ihrer ausführlicheren Abweichungen verzeichnet sind (ärgerlicherweise allerdings mit einer anderen Sigle). Für die Jahresberichte von 1054 bis 1074/75 hat sich Bernold stark an die Chronik Bertholds angelehnt. Die entsprechenden Partien sind in der MGH-Edition durch Petitsatz und Randglossen gekennzeichnet, in der WBG-Edition gibt es dagegen keine optische Hervorhebung. In beiden Textausgaben ist Bernolds Weltchronik erst ab 1054 wiedergegeben - irritierenderweise mit unterschiedlichem Satzanfang. Zwar handelt es sich bei dem Teil bis 1054 größtenteils um eine Kurzfassung der Chronik Hermanns des Lahmen, aber diese ist mit Zusätzen von Bernolds Hand im Text und am Rand des Autografs versehen, weshalb ein Abdruck auch dieses Werkabschnitts durchaus wünschenswert gewesen wäre.
Trotz zahlreicher Unzulänglichkeiten stellt die Neuausgabe beider Chroniken durch Robinson einen Fortschritt für die Forschung dar. Sie bietet nicht nur erstmals beide Texte nach den besten Überlieferungsträgern, sondern gewährt mit der Berücksichtigung früherer Fassungen auch Einblick in Arbeitsweise und Gedankenentwicklung der beiden Autoren. Die vielen Berührungspunkte der Texte sind in der MGH-Edition kenntlich gemacht; Gemeinsamkeiten und Unterschiede inhaltlich, sprachlich und stilistisch in deren Einleitung ausführlich beschrieben und anhand des Namen- und Wortregisters (von Veronika Lukas) auch nachvollziehbar. Ebenso aufschlussreich für die Arbeitsweise der Autoren wäre aber auch ein Stellenregister gewesen, doch sucht man dieses leider vergeblich. Besonders für Bernolds Chronik hätte sich eine Aufstellung der von ihm benutzten Papstbriefe und seiner eigenen Traktate und kanonistischen Schriften als ausgesprochen hilfreich erwiesen. Auch bleibt der Herausgeber in der Einleitung der MGH-Edition ein Kapitel über die Rezeption der beiden bedeutenden Chroniken aus dem Hochmittelalter schuldig.
Claudia Zey