Georg Herbstritt / Helmut Müller-Enbergs (Hgg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland (= Analysen und Dokumente; Bd. 23), Bremen: Edition Temmen 2003, 458 S., ISBN 978-3-86108-388-7, EUR 22,90
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Als am 9. November 1989 in Ost-Berlin die Mauer fiel, gefror mehreren tausend Bundesbürgern das Blut in den Adern. Statt sich über die Überwindung der deutschen Teilung zu freuen, fürchteten sie, nun für ihre Spionage zu Gunsten der DDR zur Verantwortung gezogen zu werden. Diese Besorgnis erwies sich jedoch als weitgehend unbegründet. Obwohl die Generalbundesanwaltschaft zwischen 1990 und 2000 insgesamt mehr als 3000 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Agenten der verschiedenen Spionagedienste der DDR mit bundesdeutschem Pass eingeleitet hatte und insgesamt 500 Fälle zur Anklage brachte, mussten lediglich 63 Spione eine Haftstrafe antreten.
Der von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs vorgelegte Sammelband widmet sich der Ausspähung der Bundesrepublik durch die Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit (HVA) und den Militärischen Nachrichtendienst der DDR und präsentiert insgesamt 21 Beträge einer Fachtagung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR vom November 2001. Hierbei stellten sich, besonders erwähnenswert, erstmals auch Leitende Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Bundesanwaltschaft einer öffentlichen Debatte.
Manfred Görtemaker steckt mit einem einleitenden Aufsatz den historischen Rahmen der DDR-Spionage im Ost-West Konflikt zwischen 1945 und 1990 ab. Helmut Müller-Enbergs skizziert den bisherigen Forschungsstand über die ostdeutsche Spionage gegen die Bundesrepublik, um dann auf der Grundlage der "Rosenholz-Dateien" und der "SIRA-Datenbank" ein Profil des typischen Informellen Mitarbeiter (IM) der HVA mit bundesdeutschen Pass zu erstellen. Von 1553 Bundesbürgern, die Ende der Achtzigerjahre für die Auslandsspionage des MfS arbeiteten, waren mehr als die Hälfte Agenten im engeren Sinn. Das heißt, sie lieferten als "Abschöpf-" oder "Objektquellen" vertrauliche, geheime und streng geheime Informationen aus Ministerien, Behörden, Parteien und Firmen der Bundesrepublik. Ein Teil übernahm zudem als illegaler "Resident" die Führung einzelner Spione und Agentengruppen. Rund dreißig Prozent der West-IM leisteten als "Ermittler", "Gehilfe" oder "Werber" Hilfs- und Teilfunktionen, wie die Vorauswahl von Personen, die ihnen für eine nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit der HVA geeignet erschienen. Jeder sechste Bundesbürger im Spionageeinsatz für die DDR fungierte innerhalb des logistischen Netzes des MfS in der Bundesrepublik als "Anlaufstelle" oder "Deckadresse".
Angeworben wurden die bundesdeutschen Agenten zumeist von bereits aktiven IM der HVA, wobei vier von fünf Anwerbungen in der DDR erfolgten. Nach Auskunft ihrer Führungsoffiziere gaben sechzig Prozent als Motiv ihrer Anwerbung politische Überzeugungen an, siebenundzwanzig Prozent spionierten aus materiellen Gründen für die DDR. Sieben Prozent der Angeworbenen waren in "Honigfallen" getappt und lieferten an ihre Führungsoffiziere Informationen, weil diese ihnen persönliche Zuneigung vorspielten - wie beispielsweise die Regierungsdirektorin beim BND Gabriele Gast. Vier Prozent der bundesdeutschen Zuträger warb die HVA unter falscher Flagge an, lediglich ein Prozent erpresste man zur Mitarbeit. Jeder zwölfte Agent war schließlich ein so genannter Selbstanbieter.
Ausgewählte Ausschnitte der von den Agenten bearbeiteten Spionagefelder zeigen die Beiträge von Roger Engelmann (Westarbeit des MfS in den Fünfzigerjahren), Phillip-Christian Wachs (MfS-Kampagne gegen Theodor Oberländer), Thomas Auerbach (Sabotage- und Terrorvorbereitungen der MfS-Einsatzgruppen gegen die Bundesrepublik) und Hubertus Knabe (das MfS und die Grünen). Da rund vierzig Prozent der Auslandsspionage auf die Bereiche Wissenschaft und Wirtschaft entfielen, widmen sich drei weitere Aufsätze des Sammelbandes der Spionage rund um das Mikroelektronikprogramm der DDR. Reinhard Buthmann untersucht die Organisationsstruktur und die Vorgehensweise des MfS bei der Beschaffung westlicher Technologien im Bereich der Mikroelektronik. Während Kristie Macrakis der Frage nachgeht, ob die Spionage des Sektors Wissenschaft und Technik in der HVA zu positiven Effekten für die DDR-Wirtschaft führte, lotet Jörg Roesler Möglichkeiten und Grenzen von Industriespionage und illegalem Technologietransfer aus. Beide Autoren gehen davon aus, dass die Spionageinformationen des MfS für den Versuch des Aufbaus einer eigenständigen Chipindustrie der DDR essenziell waren. Zwar mangelte es dem ostdeutschen Staat nicht am erforderlichen Know-how, wohl aber an der notwendigen Hochtechnologiebasis, um die durch Spionage gewonnenen Erkenntnisse in funktionsfähige Produkte umwandeln zu können. Obwohl der MfS-Bereich Kommerzielle Koordinierung in den 1980er-Jahren jährlich mehr als eine Milliarde Valutamark in die illegale Beschaffung sensibler technologischer Spezialausrüstung investierte, die unter das westliche Embargo fiel, sah die Leistungsbilanz der DDR-Chipproduktion letztlich katastrophal aus. 1988 waren lediglich 0,2 Prozent der produzierten 256-Kilobytechips funktionsfähig. Die Mikroelektronik der DDR hinkte der internationalen Entwicklung um mindestens zwei Generationen hinterher - ein Abstand, der auch durch eine noch effektivere illegale Technologie- und Informationsbeschaffung durch das MfS niemals hätte aufgeholt werden können.
Dass neben dem MfS auch der Militärische Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR recht erfolgreich auf bundesdeutschem Territorium operierte, zeigen die Aufsätze von Joachim Zöller und Bodo Wegmann. Zöller, Leiter der Spionageabwehr des MAD, kommt zu dem Schluss, die politischen Führungen der DDR und des Warschauer Paktes seien durch die Lageberichte der ostdeutschen Militäraufklärung "über das Potenzial und die Absichten der NATO gezielt getäuscht worden". Entgegen des nachrichtendienstlich erworbenen Wissens hatte der Spionagedienst der NVA "Militärpotential und Absichten stark übertrieben" (212). Leider versäumt es Zöller zu diskutieren, welche Interessenlage den militärischen Nachrichtendienst zu dieser Falschinformation der eigenen Regierung bewog. Auch Bodo Wegmann geht dieser Frage nicht nach, zeigt jedoch, wie flächendeckend die Militäraufklärung der DDR gegen die Bundeswehr arbeitete. Mehr als eine halbe Million Datensätze, die in der Auswertungsabteilung der Militärspionage gespeichert waren, veranlassten Egon Bahr nach der Auflösung des militärischen Nachrichtendienstes der DDR zu der Feststellung: "Die westliche Verteidigung barg keine Geheimnisse für den Osten." (222).
Dirk Dörrenberg, Direktor beim BfV, legt überaus nachvollziehbar dar, dass die Spionageabwehr der Bundesrepublik, trotz einzelner erfolgreicher Operationen, wie beispielsweise der Aktion "Anmeldung", den konzentrierten Angriffen der DDR-Nachrichtendienste wenig entgegenzusetzen hatte. Die Abwehrmaßnahmen der Verfassungsschutzbehörden ermöglichten es nur, die "Spitze des Eisbergs" der ostdeutschen Spionagebemühungen zu erkennen, was folgende Zahlen eindrucksvoll belegen: Zwischen 1964 und 1989 konnte die bundesdeutsche Spionageabwehr rund 40.000 Aufklärungsaufträge der DDR-Nachrichtendienste ermitteln. Gleichzeitig sind allein in der Teildatenbank 12 des SIRA-Datenbanksystems, die Informationen der HVA zu außen-, innen-, wirtschafts- und militärpolitischen Vorgängen im Operationsgebiet "BRD" enthält, 167.500 Datensätze gespeichert. Wie diese mühevoll rekonstruierten SIRA-Daten zur Strafverfolgung genutzt wurden und welche Möglichkeiten aber auch Grenzen sie für die historische Forschung bieten, erläutern die Beiträge von Rainer O.M. Engberding und Stephan Konopatzky.
Auch der Bundesnachrichtendienst konnte dem MfS wenig entgegensetzen. Praktisch jede BND-Quelle auf DDR-Territorium geriet nach heutigen Erkenntnissen in das Visier der Staatssicherheit, so Ullrich Wössner, Direktor beim Bundesnachrichtendienst. Besonders dramatisch stellte sich die Situation gegen Ende der DDR dar. Zu diesem Zeitpunkt trugen "neun von zehn DDR-Quellen des BND auf zwei Schultern" (401), was nichts anderes heißt, als dass sie für das MfS als Doppelagenten fungierten. Ob es dem BND gelang, aus dem Spielmaterial des MfS wertvolle Erkenntnisse für die Bundesregierung "herauszufiltern", kann mangels Akteneinsicht nicht geprüft werden. Diskussionswürdig bleibt allerdings die Einschätzung, das MfS sei mit "seinen Angriffen auf den BND insgesamt gescheitert" (403).
Abschließend sei auf einige Ungenauigkeiten hingewiesen. So kamen beispielsweise weder Rudolf Abel noch Stanislaw Waupschassow von der GRU, sondern waren immer Mitarbeiter des NKWD beziehungsweise KGB gewesen. Ein Decknamenregister hätte zudem eine wertvolle Ergänzung darstellen können. Insgesamt ist es Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs jedoch gelungen, ein Standardwerk herauszugeben, das das Wirken der ostdeutschen Spionagedienste in der Bundesrepublik erstmals aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Ihr vergleichender Ansatz und die Gewinnung von Autoren aus Behörden, deren Akten für die Forschung bislang nicht frei zugänglich sind, ermöglichen es dem Leser, neue wertvolle Erkenntnisse zu Art, Umfang und Ergebnissen der Auslandsoperationen von MfS und Militäraufklärung der NVA zu gewinnen. Gleichzeitig wird erstmals sichtbar, wie die bundesdeutsche Spionageabwehr mit den begrenzten Mitteln eines demokratischen Staates versuchte, die über sie einbrechende Spionageflut einzudämmen. Wer sich mit der Geschichte der DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik auseinandersetzen will, findet in dem Band umfangreiches Material und nicht zuletzt Anregungen für weitere Recherchen.
Matthias Uhl