Alexander Schunka: Soziales Wissen und dörfliche Welt. Herrschaft, Jagd und naturwahrnehmung in Zeugenaussagen des Reichskammergerichts aus Nordschwaben (16.-17. Jahrhundert) (= Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte; Bd. 21), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2000, 237 S., ISBN 978-3-631-36404-8, EUR 35,30
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Im 16. und 17. Jahrhundert wurden viele einfache Leute als Zeugen vor dem Reichskammergericht und seinen Kommissionen befragt, wenn ihre Herren um Rechtstitel an dem Land stritten, das die Zeugen bewohnten. Im nordschwäbischen Untersuchungsgebiet trafen verschiedene Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse aufeinander. Schunka nimmt Streitigkeiten zwischen den Grafen von Oettingen und ihren Nachbarn um Jagdrechte und Waldgrenzen zum Anlass, die Sichtweisen der einfachen Leute auf Jagd, Wald und Herrschaft aufdecken zu wollen. Der Jagd als Repräsentation der Herrschaft in der Lebenswelt der Bauern misst er dabei eine große Rolle zu, weil sie zu einer sozialen Konstruktion von Herrschaftsverhältnissen beitrug.
Um auch das bäuerliche Naturverständnis und den Umgang mit Wissen in der bäuerlichen Gesellschaft erkennen zu können, nimmt Schunka sich vor, die Quellen "gegen den Strich" zu lesen (12). Er stellt Fragen an die Quellen, deren Beantwortung nicht dem ursprünglichen Zweck der Quellen entspricht. Ihm geht es um die Annäherung an Lebens- und Herrschaftsformen in der Frühen Neuzeit, nicht um die Analyse eines konkreten Rechtsstreites. In der Entwicklung seiner Vorgehensweise greift Schunka dabei unter anderem auf die Soziologie Durkheims und seiner Schüler zurück (13-15). Seinen Begriff von Herrschaft lehnt er an Weber an (20), die Fruchtbarkeit seiner Herangehensweise an die Quellen begründet er mit dem Hinweis auf ähnlich vorgehende Untersuchungen aus den Bereichen der Historischen Anthropologie und der Mikrogeschichte (21-22).
Quellenkritisch merkt Schunka an, dass Zeugenverhöre nicht per se als objektive Quellen gelten können. Er geht aber davon aus, dass sie bis zu einem gewissen Maß den "Regelfall" des menschlichen Zusammenlebens widerspiegeln, weil die Zeugen nicht als Angeklagte vor Gericht standen (22-23). Die Annahme, dass die Zeugen über den "Normalfall" im Umgang mit Jagd, Grenzen und Herrschaftsrechten berichteten, taucht auch später wieder im Text auf (zum Beispiel 124). Diese Wortwahl suggeriert eine Art der Objektivität der Zeugenaussagen, die nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Immerhin berichteten die Zeugen zum Teil über lange zurückliegende Ereignisse beziehungsweise über ihre eigene Wahrnehmung von der Jagd, die sich trotz aller kulturellen Gebundenheit nicht automatisch mit der Wahrnehmung anderer Bauern decken musste.
Da eine singuläre Aussage im Grunde vereinzelt stehen bleibt, wenn sich ihr Inhalt nicht mit dem anderer Aussagen zu einem Bild der bäuerlichen Sichtweisen verknüpfen lässt, wäre es für das Verständnis der Deutungen hilfreich gewesen, wenn die Worte "Normal-" und "Regelfall" an einer Stelle im Buch definiert worden wären. Wünschenswert wäre eine Erläuterung des Maßstabs gewesen, der an die angenommene, von Schunka selbst aber auch eingeschränkt gesehene Objektivität der Zeugenaussagen (43-46) angelegt wird. Die vorsichtigen Formulierungen bei der Beschreibung der Erkenntnisse legen aber nahe, dass die Subjektivität von Einzelaussagen bei der Auswertung der Quellen stets im Bewusstsein des Autors stand.
Der in sich stimmige Aufbau der Untersuchung stellt vor die Beschreibung der Ergebnisse eine Darstellung des Zeugenverhörs vor dem Reichskammergericht (Kapitel 1). Der prozessrechtliche und entstehungsgeschichtliche Hintergrund der Quellen findet ebenso Erwähnung wie Arbeitsweise und Beweispraxis am Reichskammergericht.
Das zweite Kapitel beginnt mit der Beschreibung der Konstellation der reichsunmittelbaren Herrschaften am Rande des Nördlinger Rieses. Hier befasst sich Schunka mit der Frage, was die Untertanen von ihren sich streitenden Herren hielten. Er untersucht die genauen Vorstellungen der Zeugen vom Gegenstand des Prozesses und hinterfragt, wen sie als ihren Herrn betrachteten. Für die Zeit ihrer Aussage vor dem Reichskammergericht wurden die Zeugen zwar von ihrem Untertaneneid ledig gezählt, durch beständige Loyalitätsgefühle der Untertanen gegenüber ihren Herren waren aber in manchen Fällen keine objektiven Aussagen möglich (59). Aus den Quellen destilliert Schunka eine Beschreibung des Dorflebens und der Dorfbewohner. Soziale Schichten, Abhängigkeiten und Abgaben, Reichtum und Besitz, Nachbarschaft und Formen des Informationsaustausches werden dargestellt; ebenso die Menschen im Dorf und ihre soziale und geografische Mobilität.
Das dritte Kapitel wird mit einigen Worten zum Stellenwert der Jagd für den frühneuzeitlichen Adel eingeleitet. Der Wald stellte einen wertvollen Hoheits- und Nutzungsraum dar, für dessen Verwaltung Jagd- und Forstordnungen sowie eigene Behörden existierten. Die Ausübung der Jagd spiegelte die Landeshoheit der einzelnen Fürsten über ein bestimmtes Territorium wider.
Verschiedene Konfliktfälle rund um Wald und Jagd werden im nachfolgenden vierten Kapitel anhand der Zeugenaussagen ausführlich besprochen. Im Mittelpunkt steht dabei das Wissen der Zeugen um Jagd, Natur und Herrschaft. Durch die Jagd wurde die belebte und unbelebte Umwelt durch den Herrn symbolisch in Besitz genommen. Die Jagd stellte ein Mittel zur herrschaftlichen Erfassung des Raumes, eine Art "Raumdurchdringung", dar (144). Der symbolische Akt der Inbesitznahme ging durch ausgedehnte Treibjagden häufig auch über die realen Grenzen der eigenen Jagdrechte hinweg. Diese Art der Raumerfassung ergänzte den administrativen Zugriff der Herrschaft auf das Land.
Jagden gingen in der Regel öffentlich vor sich und dienten der Verbildlichung und dem Erleben von Herrschaft in der Wahrnehmung der Untertanen. Die Rolle der Untertanen bei der Jagd war die der Jagddienstleistenden. Jagden waren eine Gelegenheit für die Herrschaft, bei ihren dienstpflichtigen Untertanen bekannt zu werden. Insofern halfen Jagddienste, die Fürstenmacht zu visualisieren und einen Kontakt zum Herrn herzustellen. Die Jagd stärkte auf diese Weise indirekt die Landeshoheit und trug dazu bei, einen Untertanenverband zu formen (128).
Diese Schlussfolgerung bedarf angesichts einer vorher verbuchten Erkenntnis der Nachfrage. Aus den Zeugenaussagen liest Schunka ab, dass nicht alle Bauern immer genau wussten, zu welcher Herrschaft sie gehörten, dass sie sich im Zweifelsfall an Gerichtsbarkeit und Steuern orientierten (56-58), weil dies die herrschaftlichen Rechte waren, die sich im täglichen Leben am meisten auswirkten. Die grundherrlichen Bindungen waren im Dorf oft so verwickelt, dass die Untertanen bei den nächsten Nachbarn schon nicht mehr wussten, zu welchem Grundherrn diese gehörten (69-75). Wie lässt sich das relativ vage Wissen der Untertanen um ihre Herrschaft mit der Ausformung eines Untertanenverbandes vereinbaren? Schunka räumt der Jagd gegenüber Gerichtsbarkeit und steuerlichen Pflichten offenbar eine größere Bedeutung ein. Dies hätte eine Begründung verdient.
Analog zu dörflichen Feldumgehungen, bei denen die Landbewohner die Grenzen ihres Dorfes abgingen, ließen die Oettinger Grafen seit dem 16. Jahrhundert die Grenzen ihrer Wälder durch die Forstmeister umreiten. Sie wurden dabei von Dorfbewohnern begleitet. Diese Umritte festigten die Kenntnis der Bauern um die herrschaftlichen Waldgebiete und deren Grenzen. Die meisten Untertanen kannten die Grenzen zwischen den Herrschaftsgebieten, verstanden ihre Bedeutung aber nicht, weil diese Grenzen sich in ihrer Erfahrung nicht auf das tägliche Leben auswirkten.
Weitere Begleiterscheinungen der Jagd und deren Bedeutung für das Erleben von Herrschaft werden diskutiert. Dazu gehört unter anderem das gemeinsame Essen als Sinnstiftung, aber auch die Rolle von wilden Tieren in der symbolischen Kommunikation zwischen Untertanen und Herrschaft. Immer geht es um die Visualisierung oder Symbolisierung von Herrschaftsverhältnissen und um die Anstrengungen der Herren, die Untertanen an sich zu binden. Unklar bleibt allerdings, was es bedeutete, die Untertanen an sich zu binden. Hatte dies praktische Auswirkungen, zum Beispiel auf das Steueraufkommen in der Gegend, handelte es sich um die Festigung eines Einflussbereiches? Wie äußerte sich dies? Hier bleiben nach wie vor offene Fragen.
Während die Vorgänge im Wald dazu dienten, Kontakt und Bindung zwischen den Herren und den Untertanen herzustellen, konnte der Wald gleichzeitig ein trennendes Element sein. Dies erweist sich in der Frage der ökonomischen Nutzung. Die Bauern brauchten das Holz, sie wollten ihre Schweine zur Mast in den Wald treiben und gelegentlich kleinere Tiere jagen und verspeisen. Mit der Zeit griffen jedoch die verschiedenen Herren immer stärker auf die Ressourcen des Waldes zu und drängten damit die bäuerliche Nutzung desselben zurück.
Das vierte Kapitel schließt mit einer Betrachtung des Naturbewusstseins der Bauern, auch im Kontrast zu dem der Herrschaft. Die Bauern bearbeiteten die Natur, um aus ihr den Lebensunterhalt zu ziehen. Die herrschaftliche Seite verband mit dem Wald einerseits repräsentative und ökonomische Interessen, andererseits richtete sie administrative Anstrengungen auf ihn. Im Ganzen führte dies dazu, dass die Bauern die sie umgebende Natur nicht als autonom begriffen; sie sahen deutlich, dass die Natur stets unterschiedlichsten Eingriffen durch den Menschen ausgesetzt war.
In einer Schlussbetrachtung erläutert Schunka, dass die Dorfbewohner sich ein eigenes Bild von Wald, Jagd, Herrschaft und Grenzen machten und nicht einfach die Vorstellungen der Herrschaft übernahmen. Die Unterschiede zwischen beiden Vorstellungswelten waren jedoch selten sehr groß. Dies sei, so Schunka, zurückzuführen auf die wechselseitige Aneignung kultureller Praktiken, die das Verhältnis zwischen Untertanen und Obrigkeit bestimmte.
Insgesamt löst Schunka sein Versprechen ein, sich der dörflich-bäuerlichen Sichtweise auf Natur und Herrschaft zu nähern. Obwohl beide die Lebenswelt der Bauern sehr stark bestimmten, erscheinen sie vom Wesen her sehr unterschiedlich - hier die unpersönliche, sich stets ähnlich bleibende Natur, dort die Herrschaft, die sich in immer neuen Personen und Gesetzen manifestierte. Dennoch gelingt es in dieser Untersuchung, aus derselben Quellengruppe Aussagen über beide Phänomene zu filtern. Hieraus erweist sich letztlich ein Drittes, nämlich dass eine Aufspaltung der Lebenswelt in jeweils abgeschlossene Bereiche für Untertanen, Herrschaft und Natur nicht möglich war, weil alle drei sich stets aufeinander bezogen und die Natur die Lebensgrundlage für alle Menschen, die in den Quellen vorkommen, war. Es wäre interessant zu sehen, ob die hier aufgedeckten Konzepte auch für andere Umgebungen Bestand haben, beispielsweise für Stadtbewohner oder für die Bevölkerung eines Territoriums, in dem der Großteil der Rechte in der Hand nur eines Herrschers lag, in dem es also nicht fortwährend zu herrschaftlichen Streitigkeiten um Wald und Jagd kommen konnte.
Ursula Löffler