Antje Koolman: Die Bentincks. Eine niederländische Adelsfamilie in Nordwestdeutschland im 18. Jahrhundert (= Oldenburger Forschungen; 8), Oldenburg: Isensee 2003, 212 S., 14 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-89598-936-0, EUR 12,00
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Mit den Bentincks wendet sich Antje Koolman in ihrer Göttinger Dissertation der Geschichte einer Adelsfamilie zu, die nicht nur die zwei kleinen nordwestdeutschen Herrlichkeiten Varel und Kniphausen besaß, sondern auch in der niederländischen Geschichte Spuren hinterlassen hat und allerlei Verbindungen zu den großen europäischen Höfen in Preußen, Großbritannien, Dänemark, Frankreich, Russland oder Österreich unterhielt. Der Stammbaum dieser Familie lässt sich bis ins späte 14. Jahrhundert zurückverfolgen, doch der Schwerpunkt von Koolmans Untersuchung liegt auf der Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer solchen Familie könnte mehrere Ausgangspunkte bieten. Sie könnte sich als ein Beitrag zur nordwestdeutschen Regional- beziehungsweise zur Vareler und Kniphausener Lokalgeschichte verstehen; sie könnte - sowohl im regionalen als auch im europäischen Rahmen - als eine Sozialgeschichte des Adels konzipiert sein; sie könnte anhand der adeligen Familie Bentinck eine Alltagsgeschichte für das 18. und frühe 19. Jahrhundert darstellen, und sie hätte die Möglichkeit, einen Beitrag zur Geschichte der deutsch-niederländischen Beziehungen unter den Bedingungen europäischer Politik im Ancien Régime, der Französischen Revolution und der Restauration zu liefern. Koolman hat sich dafür entschieden, in ihrer Arbeit verschiedene thematische und methodische Zugänge zur Bentinck'schen Familiengeschichte miteinander zu verbinden, ohne einer bestimmten Fragestellung eine klare Priorität einzuräumen. Diese Entscheidung hat durchaus Vorteile, weil sie unterschiedliche untersuchungswürdige Aspekte adeliger Familiengeschichte berücksichtigt. Sie hat allerdings den Nachteil, dass nicht immer das eigentliche Forschungsinteresse der Arbeit und eine stringente Argumentation erkennbar ist. Dazu kommt, dass der Leser über die Freude der Verfasserin an Details bisweilen den roten Faden zu verlieren droht.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Willem Bentinck van Rhoon, der im Jahr 1733 Charlotte Sophie von Aldenburg heiratete. Da es zwischen den Aldenburgs und den Bentincks Standesunterschiede gab, musste Willem für die Eheschließung die Reichsgrafenwürde erwerben. Doch auch nach der Hochzeit war die Frage nach der Stellung der Bentincks innerhalb der Adelshierarchie alles andere als klar. Durfte die Familie dem hohen Adel zugerechnet werden, oder gehörte sie zum niederen Adel? Hierüber kam es zu einem langen juristischen Streit, der nicht eindeutig gelöst werden konnte und die Gemüter bis ins 19. Jahrhundert hinein bewegte; noch im Vormärz wurde über die Frage nach der Zugehörigkeit der Bentincks zum hohen Adel vor Gericht, auf der Bundesversammlung und in der Publizistik kontrovers diskutiert. Koolman selber spricht von einer "eigentümlichen Zwischenstellung" der Bentincks zwischen hohem und niederem Adel, der Status der Familie bewegte sich "in einer Art Grauzone" (63 und 64).
Weiteren Anlass zu juristischen Auseinandersetzungen gab ab 1740 die Trennung der Eheleute. Über den Scheidungsvertrag entstand ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen Willem und Charlotte Sophie, in den zeitweilig nicht zuletzt die Könige von Dänemark und von Preußen einbezogen wurden. 1754 wurde dann ein Vergleich geschlossen, der insgesamt gesehen zu Ungunsten von Charlotte Sophie ausfiel.
Auch wenn die rechtliche Positionierung der Bentincks innerhalb der Adelslandschaft in der Schwebe blieb und die Ehe zwischen Willem und Charlotte Sophie nach kurzer Zeit in die Brüche ging - durch die Hochzeit mit der Gräfin von Aldenburg erfuhr das Geschlecht der Bentincks eine Aufwertung. Wie schlug sich dies in der Lebensführung der Bentincks nieder? Liefert die Analyse der Lebensführung einen Hinweis auf die Selbsteinschätzung und die Ansprüche, die die adelige Familie erhob? Dieser Frage jenseits des Rechtsstreites widmet Koolman das umfangreichste Kapitel ihrer Dissertation, das detailreiche Kapitel IV nimmt fast ein Drittel des Buches ein. Konkret untersucht sie hier die Erziehung (unter Einschluss der "grand tour") sowie die weitere Laufbahn der Kinder und Enkel von Willem, den Umgang mit unehelichen Kindern, die Organisation der Burgmiliz in Kniphausen, die Inszenierung höfischer Feste und Formen der herrschaftlichen Repräsentation, die Gestaltung der Bentinck'schen Schlösser und Gärten im nordwestdeutschen ebenso wie im niederländischen Raum, die Nutzung von Gärten und Fischteichen sowie die Bedeutung von Marstall, Pferdezucht und Jagd. Trotz bester Absichten, trotz guter und immer wieder genutzter Kontakte innerhalb des europäischen Hochadels und trotz hoher Ansprüche blieb die Repräsentation letztlich unterhalb dessen, was von einer hochadeligen Familie erwartet wurde. So lässt die Analyse der höfischen Feste deutlich die Grenzen der adeligen Repräsentation bei den Bentincks zu Tage treten: "Während an großen Höfen Feste den Alltag bestimmten, blieben sie in Varel und Kniphausen besonderen Gelegenheiten vorbehalten. Es waren herausragende Ereignisse wie Geburtstage, Hochzeiten oder auch ein seltener Besuch der Landesherren in ihren Besitztümern, für die Repräsentation entfaltet wurde" (94).
Interessant wäre es gewesen, wenn die Untersuchung der Lebensführung nicht nur zum überwiegenden Teil bei den beiden nordwestdeutschen Herrlichkeiten angesetzt hätte, sondern ebenso ausführlich die niederländische Dimension der Familiengeschichte beleuchtet hätte. Denn in der Politik der niederländischen Republik war Willem Bentinck aktiv engagiert. Als treuer Parteigänger des Hauses Oranien entwickelte er sich "zu einem der bedeutendsten Politiker der Niederlande" (41). So unterstützte er als Mitglied der holländischen Ritterschaft und der niederländischen Generalstaaten beispielsweise die Erhebung Wilhelms IV. zum Generalstatthalter im Jahr 1747. Auch bei den nachfolgenden Generationen der Familie Bentinck lässt sich eine "Nähe zum Haus Oranien" feststellen (76). Leider bleiben die Ausführungen über Willems Aktivitäten in der niederländischen Politik insgesamt zu sehr an der Oberfläche. Auch das politische und diplomatische Umfeld, innerhalb dessen Willem für Den Haag tätig gewesen ist, wird allenfalls gestreift. Dabei hätte es die Forschungslage durchaus zugelassen, den historischen Kontext, innerhalb dessen Willem sich politisch betätigte, mühelos in die Arbeit einzubeziehen. Noch weniger wird das politische Wirken seiner Söhne und Enkel thematisiert. Unterbelichtet bleiben auch die Unruhen, die im Zuge der Französischen Revolution im Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis entstanden sind. Sie werden zwar erwähnt, doch weder ihr Verlauf noch ihre Bedeutung für die Familie Bentinck oder deren Herrschaften werden thematisiert.
Für eine Untersuchung, die explizit eine Familiengeschichte darstellt, ist schließlich die Gewichtung eigenartig. Der überwiegende Teil des Buches beschäftigt sich mit Willem Bentinck, während den nachfolgenden Generationen seiner Familie weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Noch eigenartiger ist die Tatsache, dass Charlotte Sophie von Aldenburg ein eigenes Kapitel erhält. Auch wenn sie "die schillerndste und umstrittenste Gestalt innerhalb der Familie Bentinck" war (129), ist aus der Gesamtanlage des Buches nicht ersichtlich, warum der Gräfin mit ein eigenes Kapitel (V) gewidmet wird, in dem es überdies zu einer Reihe von Überschneidungen mit und Wiederholungen von früheren Ausführungen kommt. Dieses Kapitel wäre besser dort eingebracht worden, wo die Geschichte von Ehe und Scheidung zwischen Willem und Charlotte Sophie analysiert wird. Redundanzen hätten auf diese Weise vermieden werden können.
Die Gewichtung mag ungeschickt wirken. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Antje Koolman mit ihrer Dissertation eine gut lesbare, detailgesättigte Untersuchung zu einer interessanten Adelsfamilie vorgelegt hat. Es ist eine Familie, die sowohl im Heiligen Römischen Reich als auch in der Republik der Vereinigten Niederlande präsent war, eine Familie, die im Hinblick auf den juristischen Status sozusagen zwischen den Stühlen saß, in mancherlei Hinsicht jedoch typische Verhaltensweisen aufwies. Vor diesem Hintergrund liefert die Untersuchung Stoff für adelshistorische Vergleiche.
Johannes Koll