Rezension über:

Rüdiger Klessmann: Die flämischen Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts (= Sammlungskataloge des Herzog Anton Ulrich-Museums Braunschweig; Bd. XII), München: Hirmer 2003, 192 S., 40 Farbtaf., 160 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-9930-7, EUR 78,00
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Rezension von:
Eveliina Juntunen
Jena
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Eveliina Juntunen: Rezension von: Rüdiger Klessmann: Die flämischen Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts, München: Hirmer 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/5234.html


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Rüdiger Klessmann: Die flämischen Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts

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Das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum gehört zu den Sammlungen in Deutschland, die im öffentlichen Bewusstsein weitaus weniger präsent sind als in Fachkreisen, wobei die aktuelle Rubensausstellung dem Museum derzeit viel Aufmerksamkeit beschert. Bereits im letzten Jahr wurde mit dem Bestandskatalog der flämischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts einer der ältesten und bedeutendsten Gemäldebestände des Museums erschlossen. Zusammen mit den bekannteren holländischen Werken etwa von Rembrandt oder Vermeer machen die Niederländer des 17. Jahrhunderts den Kern der fürstlichen Sammlung aus.

Die Sammlung flämischer Bilder geht im Wesentlichen auf die beiden Herzöge Anton Ulrich (1633-1714) und Carl I. (1713-1780) zurück und erlangte früh Berühmtheit. Bereits im 18. Jahrhundert verzeichnete eine damals geführte Liste allerlei Prominenz aus ganz Deutschland unter den Besuchern. Lediglich neun Gemälde, darunter Rubens' Ölskizze für die Münchner Anbetung der Könige, wurden im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts erworben. Gerne würde der Leser mehr über die Sammlungsgeschichte der flämischen Gemälde erfahren, und es ist schade, dass der Direktor Jochen Luckhardt den Leser diesbezüglich in seinem Vorwort auf einen später zu publizierenden Katalog vertröstet. [1]

Der Autor Rüdiger Klessmann, der über zwanzig Jahre an den Sammlungen tätig war und dem Haus als Direktor vorstand, hat sich nach seiner Pensionierung der Erstellung des Verzeichnisses gewidmet. Die vorliegende Publikation beinhaltet die Summe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Bestand. Dies gilt umso mehr, als Klessmann bereits 1983 das kritische Verzeichnis der holländischen Gemälde des Museums vorlegte, an das nun der flämische Katalog formal wie inhaltlich nahtlos anschließt. [2] Jene Künstler, die trotz flämischer Abstammung hauptsächlich in den nördlichen Niederlanden tätig waren (A. Keirincx, R. Savery und D. Vinckboons), sind bereits im Katalog der holländischen Maler behandelt worden. Auch fügt Klessmann den Flamen wie schon den Holländern einen Anhang mit Fotografien der erhaltenen, wenn auch manchmal kaum noch zu entziffernden Signaturen und Marken auf den Gemälderückseiten hinzu und trägt damit der Bedeutung des Braunschweiger Bestandes zur Etablierung stilkritischer Merkmale für das Œuvre kleinerer Meister Rechnung.

Das Verzeichnis ist im großzügigen Format der neuen Reihe von Braunschweiger Katalogen erschienen, die die handliche Größe des kartonierten Holländerbandes zu Gunsten von edlerem Leineneinband und schwererer Papierqualität eintauschen. Die neue Zusammenarbeit mit dem Münchner Hirmer Verlag setzt auf optische Akzente. Cornelis de Vos' opulente Allegorie der Vergänglichkeit erscheint auf dem gesamten Schutzumschlag. Das darin liegende Versprechen, das eher trockene und spröde Genre des Bestandskatalogs für ein breiteres Publikum zugänglicher zu machen, wird im Inneren aber nur teilweise eingelöst.

In seiner Vorbemerkung konstatiert Klessmann die bislang zögerliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem flämischen Bilderbestand des Museums, der immer im Schatten der zahlreicheren holländischen Gemälde gestanden hat und daher nur in seinen Hauptwerken wissenschaftlich erfasst und erforscht worden ist. Der Autor führt daher weniger eine gewachsene wissenschaftliche Erarbeitung fort, sondern ist vielmehr darum bemüht, die Grundlagen für weitere Forschung zu schaffen. Im Katalog schlägt sich dies darin nieder, dass eine Reihe von Bildern jetzt zum ersten Mal bildlich dokumentiert und stilistisch eingeordnet wurde. Klessmann sichtet den gesamten Bestand kritisch und scheidet zwischen Originalen, Kopien und Werken aus dem Umkreis bekannter Maler in Anlehnung an neue Forschungsergebnisse. Besonders betroffen sind die bislang unter dem Namen Jan Bruegel d. Ä. geführten Werke: Diese werden nun nicht mehr dem älteren Jan, sondern dessen Sohn oder einem weiteren Umkreis zugeordnet. Das prominenteste Beispiel für eine Neuzuschreibung dürfte aber das vormals als Rubens geltende, seit längerem jedoch als Van Dyck gehandelte Bildnis eines Herren sein, die Klessmann jetzt übernimmt.

Leider hat der Leser nur ausnahmsweise Teil am privilegierten Blick des Konservators auf das Original, da bislang kaum technologische Untersuchungen durchgeführt wurden und die Publikation offensichtlich nicht noch länger hinausgezögert werden sollte. Nur wenige Hauptwerke kamen in den Genuss einer gründlichen restauratorischen Untersuchung, die mit dem bloßen Auge nicht erkennbare Einblicke in die Bildgenese liefert. Das spätestens seit der momentanen Rubensausstellung zum Aushängeschild des Hauses gewordene Bild Judith mit dem Haupt des Holofernes mag als Paradebeispiel dafür einstehen. Rubens hatte zunächst auf einer kleineren Tafel begonnen, die er während des Arbeitsprozesses unten und links, nicht rechts, wie im Katalog noch fälschlich behauptet wird, anstückte. Dieses vor kurzem auf der Tagung des Verbandes deutscher Restauratoren vorgetragene Ergebnis schloss die Entdeckung einiger Pentimenti ein, die belegen, dass der Maler neben der ergänzten rechten Hand mit dem Schwert sinnliche Aspekte herausarbeitete. Nicht nur vergrößerte er den Bereich sichtbarer nackter Haut an Judiths Oberarm und Dekolletee, sondern er entblößte auch ihre rechte Brust. Mit diesen Änderungen legt das Bild den Zwiespalt des Motivs zwischen Grausamkeit auf der einen und Erotik auf der anderen Seite offen.

Auch zu Jacob Jordaens' Raub der Europa liefert Klessmann Erkenntnisse, die aus einer technologischen Untersuchung des Bildes gewonnen wurden. Aus Röntgenaufnahmen geht hervor, dass der Künstler verschiedene Bereiche mehrfach überarbeitet hat und der Malgrund vorher für eine andere Komposition verwendet wurde. Überzeugend ist daher der Schluss, dass es sich bei der immerhin 63 x 88 cm messenden Leinwand um ein eigenhändiges Modello handelt, wenn auch keine ausgeführte Version des Motivs bekannt ist. Das Gemälde ist vermutlich dem Frühwerk des Malers zuzuordnen, wenn auch bei Restaurierungen irreparable Eingriffe am Gemälde vorgenommen wurden, die eine stilkritische Einordnung kaum mehr erlauben.

Eine detaillierte, auf Leinwand gemalte Studie mit drei Windhunden wird erstmals Frans Snyders selbst zugeordnet, womit der Autor die im Inventar von 1697 überlieferte Zuschreibung als "von Schneider" wieder aufgreift. Obwohl von diesem Künstler bislang kaum Modellstudien in dieser Art bekannt sind, vermutet Klessmann in ihr nur eine von wahrscheinlich zahlreicheren Detailentwürfen, die womöglich verschollen oder nicht identifiziert sind. Das in Farbe im Anhang wiedergegebene Gemälde belegt eindrucksvoll, dass Snyders auch in einer vorbereitenden Studie auf hohe Qualität Wert legte. Dies war bislang das Argument, warum ihm das lebendige Bild abgesprochen wurde.

Über die bekannten Meister hinaus wendet sich Klessmann der zweiten Reihe der flämischen Künstler zu, die gerade in der Braunschweiger Sammlung stark vertreten sind, aber bislang kaum gewürdigt wurden. Sie sind meist in ausgezeichneten Schwarzweißabbildungen reproduziert. Das undankbarste Feld, das der Autor eines umfassenden Bestandskataloges bestellen muss, sind jedoch die Kleinmeister und Anonymi. Die schlechte Qualität der entsprechenden Abbildungen im Band und der dazugehörige knappe Text lassen in der Regel keinen anderen Schluss zu, als dass es sich bei den Werken häufig um wenig dokumentierte oder schlecht erhaltene Depotbilder handelt.

Der Braunschweiger Katalog ist nicht so großzügig ausgestattet wie andere neuere Bestandskataloge [3] und weist beispielsweise keine Detailaufnahmen auf. Er ist weitaus weniger auf ein interessiertes Laienpublikum ausgerichtet, sondern zielt in Umfang, Ausstattung und Inhalt vornehmlich auf den fachkundigen Leser. Zu der wissenschaftlichen Tonart trägt eine eher trockene Sprache bei, die knapp bisherige Erkenntnisse zusammenträgt und eigene Einschätzungen gibt. Nicht alle Aspekte wie Beschreibung, Ikonographie, Forschungsmeinungen und Erhaltungszustand werden jeweils systematisch abgearbeitet, aber alle Einträge zeichnen sich durch eine gewissenhafte und umfassende Zusammenstellung der Literatur aus.

Als optisches Extra sind dem alphabetischen Verzeichnis 40 Farbtafeln angehängt, die die Hauptwerke seitengroß und nach Gattungen geordnet abbilden. Hinzu kommen neben dem erwähnten Anhang der Signaturen ein Verzeichnis nach Inventarnummern und eine Aufstellung nach ikonographischen Gesichtspunkten. Ferner gibt Klessmann eine Übersicht über die vorgenommenen Zu- und Abschreibungen und fügt eine Liste von ehemaligen Besitzern und Sammlungen an, in denen die Werke nachgewiesen waren, bevor sie nach Braunschweig kamen.

Mit dem Bestandskatalog der flämischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts ist ein vergleichsweise üppiges, wenn auch den üblichen Genrenormen treu bleibendes Nachschlagewerk entstanden, das nicht unbedingt zum Schmökern einlädt. Er liefert aber wichtige Anregungen und Vergleiche sowie einen grundlegenden Überblick über den Forschungsstand zu den flämischen Gemälden aus der Braunschweiger Sammlung. Für diesen Bestand liegt mit dem Katalog nun eine erste umfassende, wenn auch nicht erschöpfende Übersicht vor.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Silke Gatenbröcker: Rubens in Salzdahlum - Rubens und Braunschweig. Anmerkungen zu seiner Wahrnehmung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften. Ausstellungskatalog Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig 2004, 83-98.

[2] Rüdiger Klessmann: Die holländischen Gemälde. Ein kritisches Verzeichnis, Braunschweig 1983.

[3] Vgl. Jochen Sander: Niederländische Gemälde im Städel, 1400-1550, 2. erw. Auflage Mainz 2002; Konrad Renger mit Claudia Denk: Flämische Malerei des Barock in der Alten Pinakothek, Köln 2002.

Eveliina Juntunen