Bernhard Jussen (Hg.): Liebig's Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138 auf CD-ROM (= Atlas des Historischen Bildwissens; 1), Berlin: Directmedia Publishing 2002, 2 CD-ROM, 1 Beiheft, ISBN 978-3-936122-15-2, EUR 39,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Thomas Schleper: Visuelle Spektakel und die Hochzeit des Museums. Über Chancen ästhetischer Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein wissenschaftlicher Essay, Essen: Klartext 2007
Helge Gerndt / Michaela Haibl (Hgg.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft, Münster: Waxmann 2005
Antje Windgassen: Im Bund mit der Macht. Die Frauen der Diktatoren, Frankfurt/M.: Campus 2002
In den vergangenen Jahren hat auch in der Geschichtswissenschaft ein "iconic turn" eingesetzt. Nach einer langen Phase der Textbezogenheit rücken nunmehr Bilder als eigenständige Quellen ins Blickfeld. Entgegen ihrer bislang eher als dienend interpretierten Funktion, im Sinne einer Illustrierung von Texten, werden sie als Träger vielfältiger Botschaften verstanden. Beschäftigt sich die Kunstgeschichte in der Regel vor allem mit der so genannten "Hochkunst", dem Bildersaal der Kultur, so fokussiert die Geschichtswissenschaft eher visuelle Massenmedien. Zu nennen wären beispielsweise Bildpostkarten, Plakate und Bilderbogen. Die Bandbreite umfasst auch Kleinstmedien wie Briefmarken und jüngst Zündholzetiketten. Die massenhaft verbreiteten Bilder der Alltagskultur fungieren als visuelle Artefakte kultureller Erinnerung. Unumstritten ist in der Geschichtswissenschaft der letzten 20 Jahre, dass für das Verständnis einer Kultur eine Decodierung ihrer Vergangenheitskonstruktionen hilfreich ist. Zur Entschlüsselung der jeweiligen "Erinnerungskultur", des "kulturellen Gedächtnisses" können Texte und Bilder, aber auch Verhaltensmuster sowie Riten, wie zum Beispiel politische Feste und Feiern, dienen. Um Fragen nach den Initiatoren und Gralshütern sowie der Tradierung dominierender Vergangenheitsbilder anhand visueller Quellen zu beantworten, ist es notwendig, über einen repräsentativen Fundus zu verfügen. Doch genau dies ist die Schwierigkeit, da bislang entsprechende Materialien verstreut und nicht als geschlossene Konvolute öffentlich zugänglich sind. Diesem Problem widmet sich das zunächst am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, dann an der Universität Bielefeld angesiedelte Projekt "Kollektives Bildwissen und historische Imagination in der Moderne".
Der erste Teil des daraus entstandenen "Atlas des Historischen Bildwissens" befasst sich mit Liebig-Bildern. Diese gehören zur Kategorie der Reklamesammelbilder, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre verbreitet waren. Es handelt sich bei Reklamesammelbildern um auf farbigen Karton gedruckte Bilder, zumeist Serien in einem Format von 12 x 8 cm (Liebig-Bilder in einer Größe von 11 x 7 cm), die eine nahezu unerschöpfliche Vielfalt an Sujets bieten und mit ihrem Aufdruck für ein Produkt, ein Geschäft oder eine Dienstleistung warben. Sie wurden von Firmen und Kaufleuten vertrieben. Die Gestalter der Sammelbilder sind nur selten bekannt, weil die Bilder vielfach fabrikmäßig, von unbekannt gebliebenen Grafikern entworfen wurden. Die Liebigbilder rührten die Werbetrommel für "Liebig's Fleischextrakt". Das Unternehmen "Liebig Extract of Meat Company", gegründet 1864 in Antwerpen, war ein Vorreiter in der Kreierung und Etablierung von Markenartikeln. Das war seinerzeit eine Novität. Vor allem Firmen aus dem Lebensmittelsektor (Margarine, Fertigsuppen et cetera) setzten damals bereits früh auf Marketingstrategien und stilisierten mithilfe der Verpackungsgestaltung ihre Marken. Sammelbilder waren Teil dieser Werbecampagnen. Liebig's Fleischextrakt war wohl eines der bekanntesten zeitgenössischen Markenprodukte. Als Zielgruppe des Produkts und damit auch der Sammelbilder wurde die gehobene bürgerliche Mittelschicht anvisiert. Erst als zu Beginn der 1920er-Jahre die Zigarettenindustrie Reklamesammelbilder für sich entdeckte, erlangten sie eine weite Verbreitung in allen Kreisen der Bevölkerung.
Liebigbilder sind die wohl bekannteste Kategorie der Reklamesammelbilder. Für diese Gattung bietet sich die vollständige Publikation im "Atlas des Historischen Bildwissens" an, da ihr Gesamtbestand recht übersichtlich ist. So gibt es von den 1870er-Jahren bis 1940 circa 7000 Bilder in 1138 Serien. Zu berücksichtigen ist, dass die Liebigbilder in mancher Hinsicht nicht als repräsentativ für Reklamesammelbilder im allgemeinen betrachtet werden dürfen. Verschiedene Themenbereiche, wie zum Beispiel die Größen aus Film und Sport, Fahnen, Wappen und Standarten, fehlen gänzlich oder sind in Relation zum Gesamtbestand zu vernachlässigen, so Bilder aus der aktuellen Politik. Liebigbilder bedienten einen internationalen Markt und sind dementsprechend gestaltet. Bernhard Jussen merkt deshalb an, dass sie "sich für eine nationale Identitätsbildung nicht eigneten" (9).
Der "Atlas des Historischen Bildwissens" bietet zum ersten Mal eine Zusammenstellung des vorhandenen Materialkompendiums der Liebigbilder und ermöglicht eine Behandlung relevanter Fragestellungen. So kann beispielsweise beleuchtet werden, wie viele Sammelbilder historische Themen zeigen und in welchen Rhythmen diese auftraten. Hatten bestimmte Themen, wie exemplarisch Widukind oder Barbarossa, zu bestimmten Zeiten Konjunktur und, wenn ja, wie lassen sich diese Präferenzen begründen? Die Edition erlaubt zugleich eine "korpusorientierte und themenorientierte Arbeit" (8). Bilder können demnach in Zusammenhang mit einer Serie oder einem Sammelalbum analysiert und zugleich mit dem Gesamtbestand in Beziehung gesetzt werden. Woher stammen die Sujets, und wie verlaufen die Wege der Motivwanderungen? Handelt es sich in erster Linie nur um "gesunkenes Kulturgut"? Wie ist das Text-Bild-Verhältnis zu bewerten? In welcher Form und Geschwindigkeit dringen die "Miranda" (Lasswell) der Gesellschaft in die Liebigbilder vor?
Die Publizierung des umfangreichen Bestands in Form einer CD-Rom ist äußerst gelungen. Auf diese Weise ist das Material rasch zugänglich. Die CD kann sowohl mit Windows (Versionen 95 bis XP) als auch mit MacOS (PowerPC: ab G3; ab System 8.1) verwendet werden. Als Software werden die "Digitale Bibliothek" (Windows) und der "Yorck-Browser" (Windows, Mac) angeboten. Der Yorck-Browser funktioniert problemlos, während hingegen die "Digitale Bibliothek" nicht immer gestartet werden kann. Es empfiehlt sich, mit dem Yorck-Browser zu arbeiten. Die technische Handhabung ist insgesamt einfach, das Menü übersichtlich gestaltet. Der versierte Kenner der Bilder kann beispielsweise gezielt nach Erscheinungsjahren oder Seriennummern suchen. Für eine allgemeine thematische Suche bietet sich die Volltextsuchfunktion an. Jede Serie ist mit bis zu fünf Schlagworten versehen. Insgesamt stehen 48 derartige Begriffe zur Verfügung. Die Bildqualität ist sehr gut, da eine hohe Auflösung gewählt wurde. Die Vollbildfunktion gestattet die Betrachtung von Einzelheiten.
In Anbetracht des umfangreichen Materialfundus, der benutzerfreundlichen Bedienbarkeit (der kleine Wermutstropfen der "Digitalen Bibliothek" sei außenvorgelassen) und der ausgezeichneten Bildqualität ist der digitale Atlas durchaus zu empfehlen. Hinzu kommt der vergleichsweise moderate Preis. Als Zielgruppen kommen sowohl interessierte Laien, kundige Sammler und nicht zuletzt Wissenschaftskreise in Frage. Gerade auch für Pädagogen dürfte der Atlas von Nutzen sein, weil er ein reichhaltiges Repertoire an Bildern bietet, die sich gerade auch für den Einsatz im Unterricht eignen.
Silke Eilers