Helge Gerndt / Michaela Haibl (Hgg.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft (= Münchner Beiträge zur Volkskunde; Bd. 33), Münster: Waxmann 2005, 426 S., ISBN 978-3-8309-1553-9, EUR 29,90
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Sind Bilder heute die zentralen Kommunikationsmedien? Stehen wir gar an einer visuellen Zeitenwende? Was sind überhaupt Bilder? Wie verlaufen ihre Verbreitungswege? Welche Botschaften enthalten und welche Wirkung erzielen sie? Das sind nur einige Fragen, die der viel zitierte "iconic turn" aufwirft.
Bilder sind zu einem beliebten Forschungsgegenstand avanciert; "Visual Studies" sind zunehmend in vielen Geistes- und Kulturwissenschaften en vogue. Nicht allein die Kunstgeschichte, auch andere Disziplinen wenden sich verstärkt Bildern zu. Eine interdisziplinäre Bildwissenschaft formiert sich. [1] In ihrem Verständnis als empirische Alltagswissenschaft widmet sich auch die Volkskunde seit längerem dem Phänomen Bild. [2] Wie definiert sich volkskundliche Bildwissenschaft? Welches sind ihre Erkenntnisinteressen? In dem 2005 von Helge Gerndt und Michaela Haibl herausgegebenen Band "Der Bilderalltag" beleuchten namhafte Autoren und Autorinnen "Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft". Der Sammelband beinhaltet Ergebnisse einer Fachtagung in München (2004), die Aspekte von Volkskunde als Bildwissenschaft behandelt hat.
In sechs Kapiteln nähern sich 24 Beiträge dem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln: Das Interesse am Bild, Die historische Dimension der Bilder, Bildvermittlung im modernen Alltag, Der Umgang mit Bildern, Das Lesen von Bildern, Fragen visueller Kultur. Diese in ihrer inhaltlichen Ausrichtung bewusst weit gefassten Abschnitte benennen zugleich Gegenstände einer Bildwissenschaft unter volkskundlichem Vorzeichen. Eine Einleitung liefert jeweils eine kurze Zusammenfassung der Artikel.
Im ersten Kapitel beleuchten vier aufschlussreiche Beiträge bildtheoretische und -bildwissenschaftliche Überlegungen. Ausgehend von Bildern als Sehphänomen, Sinneinheit und Trägermedium bedeutet für Helge Gerndt kulturwissenschaftliche Bildanalyse auch Beschäftigung mit mentalen Bildern. Er fordert progressiv nicht allein "eine additive Erweiterung des alten Sachkanons" (32), sondern ein neues Konzept. Da Volkskunde sich mit Alltagserscheinungen befasse, sei sie geradezu prädestiniert für die Erforschung des alltäglichen Bilderaufkommens. Wolfgang Brückner wählt eine geistesgeschichtliche Perspektive, indem er dem wechselvollen Verhältnis von Wort und Bild nachspürt. Für ihn existiert keine Alternative Wort oder Bild, da menschliches Argumentieren durchgängig mit Hilfe von Bildern vonstatten gehe. Auf Basis dieser Einsicht müsse eine empirisch und historisch ausgerichtete Bildwissenschaft notwendig wesentlicher Part von Volkskunde sein. Gottfried Korff sucht Anknüpfungspunkte für die heutige Volkskunde bei Aby Warburg. Warburgs weitem Bildbegriff, seine Detailforschung und die Fokussierung des Wechselspiels von Bild und Text liefern "begriffliche und konzeptionelle Orientierung" (52). Sein bildanthropologischer Ansatz fragt nach "Bilderzeugung und -wirkung im sozialen Raum" (53).
Die Beiträge in Kapitel zwei ergründen auf informative Weise den Quellenwert von Bildern. Ruth-E. Mohrmann untersucht "Konfliktrituale im Bild der Frühen Neuzeit". Bilder versteht sie dabei als "eigenständigen Beitrag zur Erforschung historischer Vergangenheit" (105), unterstreicht jedoch auch die Relevanz der Kontextualisierung. Daniel Drascek wendet sich dem Spannungsverhältnis von historischer und moderner Bilderwelt zu. Er skizziert den Bedeutungsgehalt vergangener Bilder für heutige Traditionsbildung und Identitätsfindung. Anhand von Vignetten vermittelt Martin Scharfe, dass auch scheinbare Bildbagatellen über einen beachtenswerten Bedeutungshorizont verfügen.
Kapitel drei prüft die Beeinflussung des menschlichen Bewusstseins durch Bilder. Albrecht Lehmann geht es in seinem Beitrag über Landschaftsgemälde um die "Untersuchung des Bildgedächtnisses" (161) und den "Prozeß seiner Vermittlung ins subjektive und kollektive Bewusstsein" (160). Er verdeutlicht den Zusammenhang zwischen sprachlichen und künstlerischen Ausdrucksformen. Irene Götz hinterfragt die Macht öffentlich inszenierter Bilder. Methodisch bevorzugt sie ein Zusammenspiel von Medienanalyse, ethnographischen Beschreibungen und Interviews. Leider belässt sie es an dieser Stelle bei theoretischen Ausführungen.
Kapitel vier behandelt anhand prägnanter Beispiele den Umgang mit Bildern. Friedemann Schmoll setzt sich kritisch mit einem facheigenen Konzept, den Visualisierungspraktiken des volkskundlichen Großprojekts "Atlas der deutschen Volkskunde" auseinander und vermittelt, dass es sich bei kartografischen Darstellungsformen keineswegs nur um neutrale Informationsträger handelt. Karten erzeugen vielmehr Vorstellungen von "Land und Leuten" (233).
Bildsemantik und Bildsyntaktik thematisieren die Beiträge in Kapitel fünf. Bilder können wie auch Schrift als Zeichen interpretiert und damit in gewisser Weise auch "gelesen" werden. Die Entschlüsselung ihrer Codes ist jedoch immer auch abhängig von dem eigenen Wissensstand. Lioba Keller-Drescher wendet sich anhand von Trachtengrafiken dem Kontext von Bildern zu. Sie versteht Bilder "als ein ständiges mehrdimensionales Zusammenspiel von Darstellen, Erzählen und Wirken" (306).
Das abschließende Kapitel benennt "Bestimmung, Analyse und Wertung visueller Kultur" (355) als künftiges Aufgabenfeld volkskundlicher Studien. Ueli Gyr setzt mit seinem Beitrag einen neuen Akzent in der Kitsch-Debatte: Kitsch sei als "Erlebnismodus" "stark bildgesteuert", ja sogar eventuell "bildkonstituiert" (363). Wie Kunst als volkskundlicher Forschungsgegenstand nach Prinzipien der Sachkulturforschung erforscht werden kann, vermittelt Franziska Schürch. Ulrich Hägele zieht ein Resümee volkskundlicher Bildforschung und gibt einen Ausblick auf neue Aufgabenfelder. Er konstatiert im Rückblick eine mitunter "unbekümmerte, ja kritiklose wissenschaftliche Bildpraxis". Hier sei mittlerweile jedoch ein Wandel zu konstatieren. Hägele sieht den Auftrag volkskundlicher Bildwissenschaft vorrangig darin, in der Visuellen Kulturwissenschaft stärker Stellung zu beziehen. Hier stehe zunächst eine "Enthierarchisierung" der einzelnen Methodenstränge "Bildwissenschaft", "Bildlore", "Visual Anthropology" und "Visuelle Ethnologie" an (388). [3]
Ingesamt bietet der Band ein Panorama des aktuellen Standes volkskundlicher Bildforschung und zugleich eine anregende Lektüre. Die in ihrer Thematik breit gefächerten und sich auf hohem Niveau bewegenden Beiträge zeigen theoretische Reflexionen, methodologische Ansätze und Anwendungsbeispiele auf. Es wird deutlich, dass die Volkskunde bereits wichtige Schritte auf bildwissenschaftlichem Terrain gegangen ist, jedoch im Hinblick auf interdisziplinäre Sichtweisen und eine Zusammenführung unterschiedlicher Instrumentarien noch einiges auf den Weg gebracht werden muss.
Anmerkungen:
[1] Z.B.: Klaus Sachs-Hombach: Bildwissenschaft. Zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005.
[2] Auswahl: Nilds-Arvid Bringéus: Volkstümliche Bilderkunde, München 1982; Wolfgang Brückner: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, München 1969; Martin Scharfe: Evangelische Andachtsbilder. Studien zu Intention und Funktion des Bildes in der Frömmigkeitsgeschichte vornehmlich des schwäbischen Raumes, Stuttgart 1968.
[3] Autoren nicht besprochener Beiträge: Nils-Arvid Bringéus, Silke Göttsch, Bärbel Kerkhoff-Hader, Christoph Köck, Walter Leimgruber, Guido Fackler, Michaela Haibl, Burkhart Lauterbach, Nina Gockerell, Thomas Raff, Cordula Carla Gerndt.
Silke Eilers