Helmut Kohl: Erinnerungen 1930 - 1982, München: Droemer Verlag 2004, 684 S., ISBN 978-3-426-27218-3, EUR 28,00
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Helmut Kohl ist nicht nur für die politische Geschichte der Bundesrepublik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine zentrale Figur. Als führender Vertreter der um 1930 Geborenen, der "skeptischen Generation", verkörpert er auch wesentliche Strömungen der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Bedeutung Kohls, im Konkreten wie im Allgemeinen, wird sich wohl erst im Laufe der Zeit herausschälen. Einen Baustein dafür liefern - wie auch in vielen anderen Fällen - aber schon jetzt die Erinnerungen des Protagonisten, dem natürlich in aller Deutlichkeit vor Augen steht, dass er damit kräftige Striche an seinem eigenen Bild in der Geschichte zeichnet.
Auf Anhieb fällt der Stil ins Auge, der am ehesten als sehr formell und nüchtern, teils gar protokollarisch-offiziell zu beschreiben ist. Nur ein beliebiges Beispiel dafür ist Kohls Kommentar zum Tag nach der verlorenen Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980, der immerhin die schweren Auseinandersetzungen mit Franz Josef Strauß um die Kanzlerkandidatur und die bitteren ersten Jahre als Fraktionsvorsitzender in Bonn vorausgegangen waren, in denen Kohls steiler Aufstieg der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre jäh gestoppt zu sein schien. Die Wahlniederlage von 1980 musste Kohl insgeheim als Triumph empfinden, nicht nur weil sein ärgster Rivale immerhin 4,1 Prozent unter dem eigenem Ergebnis von 1976 geblieben war, sondern auch weil die bundespolitischen Ambitionen von Strauß damit zunächst erledigt waren und Kohl selbst für die nächsten Jahre, für den Fall eines Zerbrechens der Regierung Schmidt, die Option für das Amt des Bundeskanzlers in der Hand hielt. Kohls Kommentar zu diesen Ereignissen: "Auf der Bundesvorstandssitzung der CDU am Montag nach der Wahl stand die Analyse des Wahlausgangs im Mittelpunkt. Ich dankte den Hunderttausenden von Helfern für ihren unermüdlichen Einsatz während des Wahlkampfs. Ich dankte vor allem Franz Josef Strauß, der sich mit einem hohen Maß an persönlichem Einsatz und Risiko in diese Wahlauseinandersetzung begeben hatte. Wir hatten gemeinsam gekämpft und gemeinsam verloren. Bundeskanzler Helmut Schmidt und die SPD waren die eigentlichen Verlierer der Wahl. Sie hatten ihr Ziel, stärkste Fraktion zu werden, nicht erreicht." (572)
So wird es etwa auch im Protokoll der Sitzung stehen oder in der Presseerklärung geheißen haben. Immer wieder aber wird die Wand des Offiziellen durchbrochen, und dann eröffnet der Autobiograf unverstellte Blicke auf einzelne Facetten der politischen Person Helmut Kohl. Zunächst ist da die Prägung, nicht nur durch das Elternhaus, sondern vor allem durch den Krieg. Kohl gehörte jener Generation an, die nicht mehr als Soldaten eingezogen wurde, aber den Zweiten Weltkrieg und seine Schrecken sehr bewusst miterlebte. Zu den anrührendsten Passagen des Buches gehört Kohls Erzählung, wie er und seine Frau ihrem ersten Sohn den Namen Walter gaben - nach Kohls eigenem, im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Bruder und nach dem Bruder seiner Mutter, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Die Tränen, die seine Mutter daraufhin in den Augen hatte, zählen zu den tief sitzenden Erfahrungen dieser Generation und Kohls selbst, die bei allem Machtwillen und bei aller Durchsetzungskraft Kohls politische Koordinaten markierten. Dazu zählt auch seine Prägung als Pfälzer im Grenzland zu Frankreich, auf der ein patriotisches, aber keineswegs nationalistisches Verständnis von "Heimat" und "Nation" gründete. Es fügte sich auch bruchlos in seine Vorstellung von "Europa" ein, das ebenfalls zu seinen originären und vor allen politisch-taktischen Interessen liegenden Leitbildern gehörte und das sich ebenso nahtlos mit der aus dem Krieg gewonnenen "Sehnsucht nach Frieden und Freiheit" (45) verband. All die Verwerfungen und Abgründe, Paradoxien und Apologien der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben Kohl nicht daran gehindert, an diesen Leitbildern festzuhalten, die so einfach sind, wie das Richtige eben oftmals letztlich wieder ganz einfach ist. Das gilt auch für die "Gnade der späten Geburt" - sicher eine der authentischsten und wahrhaftigsten Erfahrungen dieser Generation und Kohls selbst, was in der polemischen Kritik an diesem Diktum völlig verzerrt worden ist.
Zur "Gnade der späten Geburt" gehören auch - wie Kohl freimütig einräumt - glänzende Aufstiegschancen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, weil die nächst ältere Generation vom Krieg dahingerafft oder durch den Nationalsozialismus diskreditiert war. Diese Ausgangslage in Verbindung mit massivem Ehrgeiz und Machtwillen sowie einer enormen und spezifischen Durchsetzungsfähigkeit (die allerdings aus der Warte des Autobiografen etwas unterbelichtet bleibt) führte Kohl nach seiner Wahl zum jüngsten Abgeordneten im rheinland-pfälzischen Landtag 1959 binnen vier Jahren an die Spitze der Fraktion. Drei Jahre später war er bereits als Nachfolger des alternden Ministerpräsidenten Altmeier designiert und mischte zugleich auf Bundesebene in der CDU kräftig mit, in der er ebenfalls binnen weniger Jahre ganz nach vorn, zum Parteivorsitz und zur Kanzlerkandidatur durchmarschierte. Dass er dabei, mit allen innerparteilichen Wassern gewaschen, gewieft zu taktieren verstand und wiederholt auch taktischen statt sachlichen Argumenten folgte, lässt Kohl selbst deutlich werden (so plädierte er, nur zum Beispiel, als Fraktionsvorsitzender in Mainz für eine Konzentration der Entscheidungskompetenzen bei der Fraktion, als Parteivorsitzender in Bonn hingegen für ihre Verlagerung auf die Partei; oder aber er argumentierte, gegen seine Überzeugung und vor allem gegen Rainer Barzel, für eine Trennung von Partei- und Fraktionsvorsitz, als er gegen den Fraktionschef für die Parteiführung kandidierte; oder er kritisierte die Mitnahme von Wahlmandaten im Falle eines Parteiwechsels, was allerdings kein Problem für ihn darstellte, als ebendies beim Zustandekommen des konstruktiven Misstrauensvotum von 1972 zugunsten der Union geschah).
Kohl betrieb von Anfang an eine Politik der ausgeprägten persönlichen Bindungen, und offenbar drängt es ihn, ebendies zu rechtfertigen. "Gleichgesinnte um sich versammeln, Freunde in Ämter wählen, Vertraute fördern: Das ist von vielen Publizisten immer wieder als kritikwürdig angeprangert worden. Für mich war das stets eine notwendige Selbstverständlichkeit" (112). Dieser Politikstil war in der Tat nicht verwerflich, wohl aber, in der Kohlschen Ausprägung und Dimension, außergewöhnlich und kennzeichnend für ihn und seine Politik. Davon zeugen auch die Erinnerungen in ihren immer wiederkehrenden Bemerkungen darüber, wer alles seine politische Karriere dem "schwarzen Riesen" zu verdanken hat, und darin kommt eine spezifische Personalisierung von Institutionen und Ämtern, ja ihre Entwicklung zu einer Art von Pfründen in der Verfügungsgewalt des Machthabers in Partei und Staat zum Ausdruck.
Noch die Memoiren atmen den Geist von Kohls modernisierendem Vorwärtsdrang in seiner frühen Zeit, der mit dem Honoratiorentum in der Partei kräftig aneinander geriet. Deutlich kontrastiert dabei die kritische Einschätzung des wenig glänzenden Landtagswahlergebnisses der rheinland-pfälzischen CDU von 1963 mit dem Kommentar zur Bundestagswahl 1980, der das Abflauen des Sturms und Drangs schon deutlich spürbar werden lässt. In der Tat bewegte sich Kohls Kanzlerschaft schließlich im Wesentlichen auf dem für die Bundesrepublik so typischen "mittleren Weg". Die Aufarbeitung dieser Ära ist eine Herausforderung sowohl für die Zeitgeschichtsschreibung als auch für den Autobiografen selbst.
Andreas Rödder