Amit Das Gupta / Tim Geiger / Matthias Peter / Fabian Hilfrich / Mechthild Lindemann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1977. Herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, München: Oldenbourg 2008, 2 Bde., LXXXV + 1968 S., ISBN 978-3-486-58338-0, EUR 138,00
Buch im KVK suchen
Daniela Taschler / Amit Das Gupta / Michael Mayer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1978. Herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, München: Oldenbourg 2009, 2 Bde., LXXXIV + 2108 S., ISBN 978-3-486-58729-6, EUR 138,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Ploetz / Matthias Peter / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1988, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019
Katrin Rupprecht: Der deutsch-isländische Fischereizonenstreit 1972-1976. Krisenfall für die NATO? Anhand der Akten des Auswärtigen Amtes, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011
Michael Ploetz / Tim Szatkowski (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1979. Herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, München: Oldenbourg 2010
Mechthild Lindemann / Christoph Johannes Franzen (Bearb.): Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1961, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Mechthild Lindemann / Michael Mayer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962, München: Oldenbourg 2010
Tim Geiger / Michael Ploetz / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Tim Geiger / Jürgen Lillteicher / Hermann Wentker (Hgg.): Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Mechthild Lindemann / Michael Mayer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962, München: Oldenbourg 2010
Dass die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig unmittelbar nach Ablauf der Dreißig-Jahres-Sperrfrist erscheinen, lässt allzu leicht den Umfang und den Aufwand dieses editorischen Unternehmens vergessen. Er erschließt sich allerdings bei einem Blick in das Verzeichnis und die Regesten der Dokumente - 379 Stücke aus dem Auswärtigen Amt, ergänzt um Gesprächsaufzeichnungen des Bundeskanzlers, sind es für das Jahr 1977, 403 für das Jahr 1978 -, oder in die detaillierten Personen- und vor allem Sachregister. Sie offenbaren die Fülle von Themen, die sich in diesen Bänden niederschlagen und die zugleich der Kommentierung bedürfen, die der Forschung einmal mehr auf hohem Niveau zur Verfügung gestellt wird.
Die Gegenstände reichen von der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit zur friedlichen Nutzung der Kernenergie bis zur Einbeziehung Westberlins in ein Fischereiabkommen zwischen der EG und der Sowjetunion, von einer Petition des Historikerverbandes zur Fortführung der Edition der ADAP über ein Gespräch zwischen Bundeskanzler Schmidt mit Papst Paul VI., in dem es auch um den neu ernannten Erzbischof von München-Freising, Joseph Ratzinger, ging, bis zu den erheblichen Irritationen im deutschen Episkopat um die (schließlich nicht realisierten) Pläne des Vatikans, die Bistumsgrenzen in Deutschland den Gegebenheiten der deutschen Teilung anzupassen. Im Vordergrund dieser beiden Jahre, die nicht nur chronologisch im Zentrum der Kanzlerschaft Helmut Schmidts liegen, stehen freilich der Terrorismus 1977, das Europäische Währungssystem sowie vor allem die Sicherheitspolitik.
Der "deutsche Herbst" hinterließ in den Akten des Auswärtigen Amts nur vereinzelte Spuren, soweit es um die internationale Dimension des Terrorismus ging, während die internen Lageberichte der Krisenstäbe nicht zu diesem Fonds gehören. Aus den Beständen Helmut Schmidts stammt immerhin die Aufzeichnung eines Telefongesprächs mit dem französischen Präsidenten Giscard d'Estaing am 13. September 1977, acht Tage nach der Entführung Hanns Martin Schleyers, in dem Schmidt berichtete, die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik befinde sich " in einem 'schrecklichen Zustand'. Von allen Seiten, sogar von Politikern werde von ihm verlangt, Geiselerschießungen an inhaftierten Terroristen vorzunehmen. Er wolle aber keinen Zweifel daran lassen, dass er die Verfassung und die Rechtsordnung strikt einhalten werde. Er stünde aber unter starkem Druck, überwiegend seitens der Opposition, aber auch aus dem eigenen Lager und aus weiten Kreisen parteipolitisch nicht gebundener Bürger." (AAPD 1977, Dok. 242)
Zur selben Zeit baute sich innerhalb des westlichen Bündnisses ein Problem auf, das 1978 in einem wahren Desaster endete: die Frage der Stationierung der Neutronenbombe. Diese neue Waffe zeichnete sich vor allem durch eine "Verringerung von Kollateralschäden" und somit durch eine treffgenauere Einsatzfähigkeit aus. Im Verteidigungsministerium und im Auswärtigen Amt wurde sie als "Verstärkung der Abschreckungs- und Verteidigungskraft der NATO" gewertet (AAPD 1977, Dok. 232), und der Bundessicherheitsrat beschloss, ihre Stationierung in der Bundesrepublik zuzulassen (AAPD 1978, Dok. 23 Anm. 3). Allerdings stieß diese Waffe auf vielfältige Widerstände in der politischen Öffentlichkeit; von einem "Symbol der Perversion des Denkens" sprach etwa Erhard Eppler im Vorwärts, weil sie materielle Gegenstände schone, während sie Menschen töte. Die europäischen NATO-Regierungen schienen, so der deutsche NATO-Botschafter Ende September 1977, überwiegend "die militärische Wünschbarkeit der Einführung der Neutronenwaffe anzuerkennen. Es ist jedoch deutlich, daß sie den Grad ihres Mitwirkens bei der Entscheidung durch vorgeschobene politische Gründe einzudämmen beabsichtigen." (AAPD 1977, Dok. 243 Anm. 24)
Die Entscheidung über die Produktion lag unterdessen allein bei der US-amerikanischen Regierung und somit bei Jimmy Carter, der im Januar 1977 die Präsidentschaft übernommen hatte. Der Unterschied zu seinem Vorgänger spiegelte sich auch im Unterschied zwischen den beiden führenden außenpolitischen Köpfen, wie ihn der Bonner Botschafter in Washington im September 1977 einschätzte: Auf Henry Kissinger, den pessimistischen "Gleichgewichtspolitiker", der vor allem die Stabilisierung des Status quo betrieb, war mit Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski ein optimistischer Befürworter des Wandels gefolgt. "Er glaubt, kurz gesagt, daß die USA in einer sich wandelnden Welt in Führung gehen sollten [...]. Das brillante, intellektuelle, aber auch ambitiöse, ungeduldige, zum Theoretischen neigende und gelegentlich 'changierende' Denken Brzezinskis findet kein ausreichendes Korrektiv im Felde umsichtiger, weitschauender, empirischer und geduldiger diplomatischer Aktion." (AAPD 1977, Dok. 252)
Nach langen Diskussionen in den Mitgliedsstaaten und nach etlichem Hin und Her innerhalb des Bündnisses ließ Carter dann Ende März 1978, nicht zuletzt unter Verweis auf die öffentliche Kritik, durch den stellvertretenden Außenminister ausrichten, "die Neutronenwaffe nicht herzustellen." (AAPD 1978, Dok. 92) Die protokollarischen Formulierungen von Schmidts "Erstaunen" (AAPD 1978, Dok. 93) über die "Irritationen" vermochten kaum zu camouflieren, dass er außer sich über den amerikanischen Präsidenten war: "Er habe" - so der Bundeskanzler gegenüber dem amerikanischen Botschafter - "bei der Behandlung der Neutronenwaffe sein Äußerstes getan, um zu einer einvernehmlichen Haltung mit den USA zu kommen. Er sei dabei so weit gegangen, daß er sein persönliches Einvernehmen mit Brandt und Wehner aufs Spiel gesetzt habe. [...] Er habe gestern abend Brandt über die neue Lage unterrichtet und ihn gebeten, keinen falschen Applaus zu spenden." (AAPD 1978, Dok. 94)
Während sich auch der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa, General Haig, gegenüber dem deutschen NATO-Botschafter "tief schockiert" über die Entscheidung Washingtons zeigte (AAPD 1978, Dok. 103), war Schmidt in ernster Sorge um Sicherheit der Europäer. Schon am 28. Oktober 1977, wenige Tage nach dem Ende des Geiseldramas um Hanns Martin Schleyer und die 'Landshut', hatte er in einer Rede vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies gefordert, angesichts wachsender "Disparitäten militärischer Kräfte sowohl auf konventionellem als auch taktisch-nuklearem Gebiet [...] für die gültige Strategie ausreichende und richtige Mittel bereitzustellen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. November 1977, 1015) Diese Rede war ein Meilenstein auf dem Weg zum NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979. Sie ist samt ihrer Entstehung in den AAPD nicht dokumentiert, macht gleichwohl die durchgängig erkennbare vorrangige Bedeutung des Bundeskanzleramts in der Außen- und vor allem der Sicherheitspolitik deutlich.
Dasselbe gilt für die europäische Währungspolitik: Im Frühjahr 1978 startete Schmidt ohne Beteiligung des Auswärtigen Amts - "wir kennen die Vorstellungen des Bundeskanzlers nicht", hieß es in einer internen Aufzeichnung vom 21. April - eine Initiative, "durch stabilere Wechselkursverhältnisse in Europa eine stärkere Wirtschaftsexpansion zu ermöglichen." (AAPD 1978, Dok. 120) Das Europäische Währungssystem stand zwar zeitlich am Vorabend der 'Eurosklerose' in den frühen achtziger Jahren, sachlich freilich an der Schwelle zu einem System fester Wechselkurse in Europa, das 1989 grundsätzlich beschlossen und 1999 mit dem Euro tatsächlich realisiert wurde.
Die Akten zur Auswärtigen Politik der Jahre 1977 und 1978 dokumentieren eine deutsche Politik in der Phase des Übergangs zur ökonomisch-politischen Doppelkrise an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren, auf die in den achtziger Jahren eine Phase der Transformation folgte, deren grundlegender Charakter sich erst im Nachhinein offenbarte. Die Edition der AAPD erschließt eine wissenschaftliche Goldgrube, aus der die Geschichtsschreibung in Forschung und Lehre, von der Seminararbeit bis zur Monografie, reiches Kapital schlagen kann - und sich dabei stets bewusst sein sollte, auf welcher Leistung an editorischer Grundlagenforschung sie beruht.
Andreas Rödder