Frances Pownall: Lessons from the Past. The Moral Use of History in Fourth-Century Prose, Ann Arbor: University of Michigan Press 2004, VIII + 204 S., ISBN 978-0-472-11327-9, GBP 37,50
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Lene Rubinstein: Litigation and Cooperation. Supporting Speakers in the Courts of Classical Athens, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000
Khaled Anatolios: Athanasius, London / New York: Routledge 2004
Joseph Roisman: The Rhetoric of Manhood. Masculinity in the Attic Orators, Oakland: University of California Press 2005
Der Vergangenheitsbezug antiker Gegenwarten ist ein Phänomen, das seit einigen Jahren in der althistorischen wie der altphilologischen Forschung auf großes Interesse stößt. In jüngster Zeit versucht man besonders, mit dem Paradigma der 'Erinnerungskultur' zu arbeiten, um den Konnex von Selbstverständnis, Identitätsbildung und Operation mit der Vergangenheit in der Antike zu erkunden. Im Vordergrund der Betrachtung steht dabei zumeist die römische Gesellschaft der mittleren und späten Republik sowie der Kaiserzeit. Sie scheint durch die Konzeption des mos maiorum, die Argumentation mit historischen exempla und die intensive Reflexion über ihre Geschichte geradezu ein Paradebeispiel für eine 'Erinnerungskultur' zu sein.
Mit den Griechen tut man sich in dieser Hinsicht für gewöhnlich schwerer. Sie wählen offenbar eher andere Formen der Selbstvergewisserung und auch der Legitimation politischer Ordnungen. Der unmittelbare Bezug auf eine arche, die mythisch oder philosophisch gefasst werden kann, ist bei ihnen wichtiger als die Arbeit mit Traditionslinien. Auch wenn im Umgang mit dem Mythos die Dimension der Zeit zuweilen reflektiert wird, so ist sie doch zumeist nicht essenziell. Die vergleichsweise geringe Bedeutung der Vergangenheit für das Selbstverständnis wird speziell für die archaische und frühe klassische Zeit herausgestrichen, wobei in letzterem Falle meist an das Athen des fünften Jahrhunderts gedacht ist: Das 'Könnensbewusstsein', die Erfahrung der Relativität politischer Organisationsformen und Handlungsoptionen wie auch die Vorstellung, den eigenen Vorfahren grundsätzlich überlegen zu sein, geben kaum Anlass für eine Orientierung an den progonoi.
In den sozialen Diskursen der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts hingegen spielen Rekurse auf die Vergangenheit eine große Rolle. Die Athener sehen sich nun nicht mehr auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten und nehmen Defizite bei sich wahr. Stärker als im fünften Jahrhundert reflektieren sie ihre politische Ordnung und stellen dazu Vergleiche mit der Vergangenheit ihrer Stadt an. Dabei geht es ihnen nicht darum, ein Gegenmodell zur gegenwärtigen Demokratie zu propagieren; allerdings treten sie dafür ein, die derzeitige Politeia in ihrer 'eigentlichen' Form wiederherzustellen, so wie sie ihrer Vorstellung gemäß bei den progonoi bestanden hat. Sie projizieren damit das Ideal der eigenen Ordnung in die Vergangenheit und veranschaulichen diese über historische exempla. Zeugnis dafür geben vor allem die Demegorien und die Gerichtsreden aus öffentlichen Prozessen.
Einen ausgeprägten Vergangenheitsbezug finden wir zeitgleich auch in literarischen Texten, die von Autoren stammen, die der attischen Demokratie mindestens skeptisch gegenüberstehen. Auch diese transponieren ihre Vorstellungen von einem 'guten' politischen Gemeinwesen und dementsprechenden Verhaltenserwartungen an die politisch Handelnden in frühere Phasen der griechischen Geschichte. Sie beziehen sich teils ebenfalls auf Athen, stellen aber nicht selten allgemeine Überlegungen an, die über diese Polis hinausgehen. Insbesondere in letzterem Falle sprechen sie sich zuweilen explizit gegen die demokratische Ordnung aus.
Belege dafür finden wir neben den Schriften des Isokrates in der Historiografie dieser Zeit, die Frances Pownall in ihrer Monografie in den Blick nimmt. Sie beobachtet in der Auseinandersetzung mit den 'Hellenika' des Xenophon, den Fragmenten aus dem Werk des Ephoros und den 'Philippika' Theopomps, dass diese Autoren vorrangig bestrebt sind, moralische exempla zu präsentieren und - anders etwa als Thukydides - kaum intendieren, Methodenreflexionen anzustellen und sachlich genaue Informationen zu bieten. Als Paradigmata wählen sie, wie Pownall zeigt, in der Regel historische Persönlichkeiten; der Rückgriff auf mythische Heroen begegnet demgegenüber nur noch selten.
Der Umstand, dass einige Historiografen des vierten Jahrhunderts ausgeprägt moralisierende Tendenzen aufweisen, ist schon des Öfteren bemerkt worden; Pownall zeigt darüber hinaus aber auf, dass die Vermittlung ethischer Werte als die zentrale Zielsetzung der untersuchten Autoren angesehen werden kann. Dies manifestiert sich ihrer Beobachtung nach im Besonderen darin, dass Xenophon, Ephoros und Theopomp die zu behandelnden Ereignisse weniger im Hinblick auf politische Relevanz als unter dem Gesichtspunkt auswählen, inwieweit ihre Protagonisten sich eignen, als positive oder negative Beispiele zu fungieren. Dem gleichen Zweck dienen zahlreiche Reden und Exkurse. Dabei grenzen sich die Verfasser ausdrücklich von der attischen Demokratie ab: Sie kritisieren deren expansive Außenpolitik, die ihrer Ansicht nach mit Korruption einhergeht, und wenden sich gegen die attischen Redner, die die Bürger zu einer solchen Politik motivieren. Gemeinsam ist ihnen überdies die Sympathie für das lykurgische Sparta, was darin zum Ausdruck kommt, dass sie mit Vorliebe exempla aus der früheren spartanischen Geschichte verwenden.
Die Historiografen nehmen, wie Pownall herausstreicht, durchaus wahr, dass auch die attischen Redner mit der Vergangenheit - insbesondere der der eigenen Stadt - operieren. Sie beobachten dies besonders bei den Epitaphioi. Jedoch distanzieren sie sich entschieden von dieser Praxis, weil sie dort einen Missbrauch der Geschichte wittern, der lediglich dazu diene, Machtpolitik zu legitimieren. Dass hier trotz wesentlicher inhaltlicher Unterschiede auch strukturelle Gemeinsamkeiten mit ihrem eigenen Umgang mit der Vergangenheit auszumachen sind, wird ihnen aufgrund ihrer spezifischen Apperzeption der Rhetorik und der Kommunikationssituation in den Institutionen der attischen Demokratie freilich nicht bewusst.
Pownall verortet die behandelten Autoren unter den intellektuellen Gegnern der attischen Demokratie, die im vierten Jahrhundert nicht mehr offen für einen oligarchischen Umsturz eintreten, sondern sich auf die literarische Kritik an der Demokratie verlegen, sich ansonsten aber politisch weitgehend passiv verhalten. Ihre Zielsetzung besteht darin, diesem Personenkreis ein Konglomerat aus traditionell aristokratischen und philosophisch begründeten Normen zu vermitteln und ihn zu politischem Engagement zu motivieren.
Pownall gelangt zu wichtigen Erkenntnissen bezüglich der Intentionen der Geschichtsschreiber des vierten Jahrhunderts, die für die Interpretation der Texte höchst aufschlussreich sind. Das wesentliche Verdienst der Arbeit liegt darin, den Fokus verstärkt auf die Adressaten der Schriften zu lenken. In diese Richtung sollte meines Erachtens aber noch weiter geforscht werden. So wäre etwa zu eruieren, ob sich die Arbeiten tatsächlich primär an eine athenische intellektuelle Elite richten oder ob sie nicht darüber hinaus ein gesamtgriechisches Publikum im Blick haben. Des Weiteren könnte grundsätzlich betrachtet werden, wie sich die Formen des Vergangenheitsbezuges, die sich im Athen des vierten Jahrhunderts in verschiedenen Diskursen finden, charakterisieren lassen. Zu dem Zweck dürfte es hilfreich sein, die methodischen und konzeptionellen Überlegungen heranzuziehen, die im Zusammenhang mit diesbezüglichen Forschungen zu Rom angestellt worden sind, um auf Ähnlichkeiten wie auf Differenzen aufmerksam zu werden.
Karen Piepenbrink