Marie-Luise Heckmann: Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert (= Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit; Bd. 9), Warendorf: Fahlbusch Verlag 2002, 2 Teile, insg. XIV + 978 S., ISBN 978-3-925522-21-5, EUR 65,00
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Tod, zeitweilige Amtsunfähigkeit und längere räumliche Abwesenheit eines Herrschers vermochten Königreiche und ihre Rechts- und Ordnungssysteme in eine existenzielle Krise zu stürzen. Derartige - durch das Fehlen eines volljährigen und allseits anerkannten Nachfolgers noch gesteigerte - Ausnahmesituationen lösten in den mittelalterlichen Reichen ganz unterschiedliche Mechanismen zur Sicherung des jeweiligen Ordnungsgefüges und zur Überbrückung der herrscherlosen Zeit ("Interregnum") aus und beförderten die Ausbildung neuartiger Formen der Verstetigung und Transpersonalisierung königlicher Herrschaft. Den Platz des verstorbenen, amtsunfähigen oder abwesenden Herrschers nahm(en) in diesen Fällen ein (oder mehrere) Stellvertreter ein, der (oder die) sein Amt zeitlich und örtlich begrenzt ausübte(n).
Die jüngere Forschung hat diesen unterschiedlichen Formen der Stellvertretung, Mit- und Ersatzherrschaft bislang nur mäßige Aufmerksamkeit gezollt. Neben methodisch neuen Zugriffen fehlten auch vergleichende Untersuchungen zu mehreren Reichen oder Territorien. Diese Lücke versucht die vorliegende, mitunter etwas weit ausholende Hamburger Habilitationsschrift von 2000/2001 durch den Vergleich Frankreichs und des Heiligen Römischen Reichs (Hätte sich England nicht eher angeboten?) im Zeitraum von 1223-1422 beziehungsweise 1212-1437 zu schließen. Die vorrangige Quellengrundlage bilden die zahlreichen einschlägigen Königs- und Kaiserurkunden, die Form, Umfang und Dauer der jeweiligen Stellvertretung detailliert regelten. Unter dem Oberbegriff der Stellvertretung, Mit- und Ersatzherrschaft subsumiert die Autorin thematisch drei Grundtypen: die Reichsverweserschaft beziehungsweise Regentschaft während eines Interregnums, die Regierungsformen während einer Herrschaftskrise und die Stellvertretung des Herrschers im Regierungsalltag. Methodisch weiterführend ist ihr gewählter Ansatz, der den bislang vor allem in der französischen Forschung dominierenden monarchischen Blickwinkel mit der Perspektive von Adel und (Kur-)Fürsten verknüpft.
Ihrem Gegenstand, den Trägern, Feldern und Formen herrscherlicher Stellvertretung, nähert sie sich in vier Großkapiteln. Nach resümierenden Bemerkungen zu Forschungsstand, Methodik, Quellengrundlage und zeitlichem Rahmen der Untersuchung (1-53) thematisiert sie im zweiten Kapitel (54-328) die Vormundschafts- und Abwesenheitsregierungen in Frankreich von Ludwig VIII. (gestorben 1226) bis zum Regierungsantritt Karls VII. 1422. In ihrer chronologisch fortschreitenden Darstellung arbeitet sie zunächst die Bedingungen (Vergabe von Apanagen an männliche Nachkommen des Königs; königliche Bestimmungen für den Minderjährigkeitsfall) und Ausprägungen königlicher Stellvertretung (Regierungsbefugnisse der Königin; Abwesenheitsregierungen und erste Statthalterschaften von Einzelpersonen während des sechsten und siebten Kreuzzuges) im Frankreich der ausgehenden Kapetingerzeit heraus. Während sich die durch den vorzeitigen Tod des Königs entstandenen Interregna von 1316 und 1328 durch Regentschaften königlicher Verwandter im engen Einvernehmen mit den "Pairs de France" meistern ließen, löste die Gefangennahme König Johanns II. durch die Engländer 1356 eine Herrschafts- und erste Stellvertretungskrise aus. Die Herrschaftsansprüche Karls V., des Sohnes Johanns, gerieten mit seiner Annahme des Regententitels 1358 in Konflikt mit den Vorstellungen der Generalstände und des Parlement, die sich in dieser Situation als Vormünder für das Regnum betrachteten. Die 1360 einsetzende, heftige Konkurrenz der "Prinzen von Geblüt" ("Fleurs de Lis") und Brüder des künftigen Königs, Karls V., um königliche Stellvertretung und Statthalterschaften bewogen diesen neben anderem schließlich zu einer umfassenden Neuordnung der königlichen Nachfolge und Stellvertretung. Mithilfe der königlichen Ordonnanzen von 1374 und des Nachfolgegesetzes von 1375 trachtete Karl V. dem Herrschaftsvakuum einer königslosen Zeit durch die Etablierung einer patrilinearen Erbmonarchie entgegen zu wirken, die das Eintrittsalter des französischen Königs in alle Herrschaftsfunktionen auf die Vollendung des 14. Lebensjahres festsetzten. Doch Karls Neuregelung verfehlte ihren Zweck und schuf nicht die gebotene rechtliche Sicherheit.
Die sich in Fragen der Vormundschaft und Regentschaft teilweise widersprechenden Ordonnanzen von 1374 zeitigten vielmehr neue Probleme, die im Bündnis mit anderen Faktoren (Aufstände, Hundertjähriger Krieg) die lange Regierungszeit seines temporär geisteskranken Sohnes und Nachfolgers Karls VI. (1380-1422) entscheidend prägten.
Die krankheitsbedingte, wiederholte Amtsunfähigkeit Karls VI. seit 1392 machte eine Ersatzregierung erforderlich, für die zu der Zeit noch keine verbindliche Rechtsgrundlage existierte. In der Folge entbrannte ein regelrechter Stellvertretungs- und Nachfolgekonflikt, in dem königliche Familienmitglieder und Verwandte, aber auch Institutionen wie die "Pairs de France" und das Pariser Parlement mit unterschiedlichen rechtlichen Argumenten eine Mitwirkung an der Regentschaft beziehungsweise Kuratelregierung oder gar - wie die Herzöge von Burgund - die Nachfolge auf dem Thron für sich beanspruchten. Während der König selbst im Jahre 1407 dem Dauphin die Befugnis übertrug, an seiner Stelle als Regent zu amtieren, gründeten die Königin und königlichen Verwandten ihre konkurrierenden Stellvertretungs- und Nachfolgeansprüche entweder auf eine organologische (burgundische Partei) beziehungsweise feudale Reichsauffassung (Ludwig von Orléans) oder auf die Teilhabe an der königlichen Souveränität (Königin). Langfristig gesehen entschied der Dauphin diesen fundamentalen Konflikt schließlich zu seinen Gunsten. Er vermochte sich auf den von Jean de Terrevermeille erstmals formulierten Grundsatz von der statuarischen Kontinuität der französischen Thronfolge zu berufen, eine "staatsrechtliche Weiterführung des aus der Kanonistik geläufigen 'Koadjutoriums'" (321). Dieses, künftig dritte Grundprinzip der französischen Monarchie band selbst den amtierenden König an den gewohnheitsrechtlichen Grundsatz, wonach der Sohn immer auf den Vater folge. Dem König war daher weder gestattet, den Dauphin abzusetzen oder ihn zu übergehen noch sich durch einen Dritten vertreten zu lassen.
Im anschließenden dritten Großkapitel (328-650) rückt die Autorin die unterschiedlichen Formen und Träger von Stellvertretung, Mit- und Ersatzherrschaft für den römisch-deutschen König und Kaiser von 1212 bis 1437 in das Zentrum der Betrachtung. In einem ersten Zugriff benennt sie die Vorläufer und möglichen Vorbilder königlicher Stellvertretung im Imperium (vor allem in Italien) bis 1308: päpstliche und bischöfliche Stellvertreter, Vikare und Prokuratoren in der staufischen Reichsverwaltung Italiens, das Reichsvikariat Karls I. von Anjou und die vielfach reichsgutgebundenen Statthalter während der "kaiserlosen Zeit" bis 1312. Darauf aufbauend, untersucht sie für jeden der römisch-deutschen Könige und Kaiser zwischen 1308 und 1437, welche Vorstellung der jeweilige Herrscher über die Rolle seiner Vikare besaß und welche Kompetenzen und Tätigkeitsfelder er ihnen als seine Stellvertreter überließ.
Die Regierung Heinrichs VII. (1308-1313) markierte einen Neuanfang in der herrschaftlichen Erfassung und Verwaltung Italiens. Seiner auf die universale Souveränität gestützten Reichs- und Vikariatspolitik, die vorrangig auf die zeitlich befristete Ernennung einheimischer Adliger und Patrizier zu Ortsvikaren (unter Friedrich II.: Gebietsvikare) setzte, blieb aber der erhoffte Erfolg versagt.
Ludwig der Bayer sah sich in seiner Italienpolitik lange Zeit mit der durch die so genannte Krönungstheorie legitimierten päpstlichen Herrschaftspraxis der Berufung von Reichsvikaren in Italien "vacante imperio" konfrontiert. Seine Vikariatspolitik, in der er anders als sein königlicher Amtsvorgänger Auswärtige zu Reichsvikaren ernannte und mit einer umfassenden Befehlsgewalt ("merum et mixtum imperium") ausstattete, war deshalb bis 1327 fast ausschließlich auf das Ziel der Vorbereitung seines Romzuges ausgerichtet. Im Bereich nördlich der Alpen suchte Ludwig mit der Verleihung von politisch zweckgebundenen Vikariaten unliebsame Herrschaftskonkurrenten in das Lehnssystem des Reiches einzubinden.
Unter Karl IV. lässt sich eine sukzessive Verfestigung und Ausdifferenzierung der herrscherlichen Vikariatsrechte feststellen, was nicht nur seine rund fünfzig Vikariatsdiplome sondern auch die Goldene Bulle von 1356 (Normierung der Reichsverweserschaft des Pfalzgrafen und des Herzogs von Sachsen) belegen. Das Reichsvikariat mit seiner Aufgabe der Rechts- und Friedenswahrung verstand er als Chance, Gebiete wie das Arelat, die sich vom Reich abzulösen drohten, wieder stärker an das Imperium zu binden. Der von ihm vielfach zu Gebiets- oder Ortsvikaren ernannte italienische Adel nutzte das Reichsvikariat als Rechtstitel zum eigenen sozialen und politischen Aufstieg, der wiederholt in der Belehnung mit einem Reichsfürstentum oder Generalreichsvikariat gipfelte.
Karls Sohn Wenzel folgte dem Beispiel seines Vaters nur partiell. Seinen Vikariatsdiplomen nach zu urteilen, verlieh Wenzel seinen Generalvikaren (Jobst von Mähren für Reichsitalien; Sigismund für das Heilige Römische Reich) und Statthaltern einen umfassenden Handlungsspielraum, der über die Belehnung mit Fürsten- und Fahnenlehen bis hin zur Aufhebung des Kaiserrechts durch die Vikare reichte. Für seinen gegen ihn von den Kurfürsten erhobenen Nachfolger Ruprecht von der Pfalz stellte sich das Problem der Ernennung von Reichsvikaren vor allem im Rahmen seines - schließlich gescheiterten - Italienzuges 1401/1402. Durch die Berufung einzelner bevollmächtigter Räte zu königlichen Stellvertretern in Italien mit dem Recht zur Ernennung von Gebiets- und Ortsvikaren vermochte er jedoch nicht die aus der andauernden Schwäche des römisch-deutschen Königtums resultierende Herrschaftsvakanz in Oberitalien zu beheben.
Aus den Erfahrungen seiner königlichen Vorgänger in Deutschland, Reichsitalien und im Arelat lernend, vermied König Sigismund konsequent die Vergabe eines unwiderruflichen, dauernden und für das gesamte Heilige Römische Reich geltenden Generalvikariats. Den Vikar als Träger eines umfassenden Souveränitäts- und Majestätsrechts lehnte er genau so ab, wie er dem Pfalzgrafen bei Rhein ein grundsätzliches oder unbegrenztes Abwesenheitsvikariat verweigerte, das dieser unter Berufung auf ein Mandat Karls IV. von 1375 beanspruchte. In der Vorstellung Sigismunds war die Rolle des Vikars vielmehr primär auf die Sicherung des jeweiligen Grenzraumes beschränkt.
In einem letzten mit "Imperatores in territoriis suis sive principes per regnum" überschriebenen Großkapitel (651-732) werden die zahlreichen weiterführenden Ergebnisse der Arbeit in zehn Punkten gebündelt und in größere Entwicklungslinien eingebunden. Das den mittelalterlichen Königreichen gleichsam systemimmanente Problem der wiederkehrenden Vakanz des Königsthrones ist in Frankreich und im Heiligen Römischen Reich auf unterschiedliche Weise gelöst worden. Während die staatstragenden Kräfte in Frankreich dem Herrschaftsvakuum in einem "Zwischenreich" (Interregnum) mit der Bestellung von "Regenten für das Königreich" und der Etablierung des Dauphins als Alter Ego des Königs begegneten, setzten Königtum und Kurfürsten im Reich vorrangig auf die Verankerung der Reichsverweser im Reichsrecht (Goldene Bulle!). Dieser wirkmächtige Prozess war zugleich von einer stetigen Schwächung der monarchischen Gewalt zu Gunsten des Aufstiegs ranghoher Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher zu "Kaisern in ihren Territorien" und "Fürsten für das Reich" gekennzeichnet.
Die gewichtige Studie wird durch einen umfangreichen Anhang beschlossen: mit der Edition der im Pariser Nationalarchiv erhaltenen "Régences et majorités des rois de France" (733-828), einem Verzeichnis der Ernennungsdiplome für Reichsvikare unter Karl IV., einer Edition dreier bislang ungedruckter Vikariatsurkunden Karls IV. (832-848), einem Verzeichnis der herangezogenen ungedruckten und gedruckten Quellen nebst Darstellungen sowie durch mehrere Weiser für Quellen- und geografische Bezeichnungen, historische Personen, Begriffe und Sachen. Abgesehen von einigen Längen und Wiederholungen hätte ihr an manchen Stellen ein stärker systematisierender Zugriff gut getan.
Hubertus Seibert