Volker Reinhardt: Francesco Guicciardini (1483-1540). Die Entdeckung des Widerspruchs (= Kleine politische Schriften; Bd. 13), Göttingen: Wallstein 2004, 208 S., ISBN 978-3-89244-805-1, EUR 24,00
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Peter Burschel / Mark Häberlein / Volker Reinhardt (Hgg.): Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhardt zum 65. Geburtstag am 10. April 2002, Berlin: Akademie Verlag 2002
Daniel Büchel / Volker Reinhardt (Hgg.): Die Kreise der Nepoten. Neue Forschungen zu alten und neuen Eliten Roms in der frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Forschungstagung 7. bis 10. März 1999, Istituto Svizzero di Roma, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001
Arne Karsten / Volker Reinhardt: Kardinäle, Künstler, Kurtisanen. Wahre Geschichten aus dem päpstlichen Rom, Darmstadt: Primus Verlag 2004
Volker Reinhardt hat einen Essay über Francesco Guicciardini geschrieben. Dies ist zu begrüßen, denn der Florentiner Politiker und Historiker Guicciardini ist tatsächlich ein Unbekannter im deutschen Sprachbereich. Dies beweist schon die Suche im Buchhandelskatalog: deutsche Übersetzungen dieses Autors fehlen. Die "Storia d'Italia" wurde 1574 in Basel verdeutscht, die "Ricordi" erschienen 1598 in Halle in lateinischer Sprache. Ja, und 1942 hat sich noch Ernesto Grassi ohne großen Erfolg an den "Ricordi" als Herausgeber versucht. Das war es auch schon. So bleibt der Tatbestand erhalten: Nur die Experten haben bislang Zutritt zu diesem zentralen Autor der Frühen Neuzeit. Deshalb muss man es schon als verdienstvoll ansehen, dass Reinhardt eine ganze Reihe wichtiger Passagen nach langer Zeit wieder ins Deutsche übersetzt hat.
Was erhält der Leser nun geboten? Keine systematische Studie vor dem Hintergrund von Gilbert, Skinner und Pocock, sondern eine aus der Lektüre erwachsene Reflexion von Reinhardt über Guicciardinis 'Entdeckung des Widerspruchs'. Was ist damit gemeint, um welchen Widerspruch geht es? Es geht um die Erfahrung, dass das religiöse, philosophische, politische und historische Wissen in der Katastrophe Italiens zu Beginn des 16. Jahrhunderts regelhaftes oder exemplarisches Wissen ausschließt. Alles fließt: die Widersprüche bleiben. Auch die neue Historiografie, das ultimative Ergebnis der Renaissance, scheitert daran, beruhigende Resultate, das heißt feststehende Exempla, zu liefern. Unmittelbare Therapie gelingt ihr nicht mehr. Was bleibt, ist der Versuch distanzierender Beschreibung des Unbegreifbaren, die immer wieder am Drang des Politikers Guicciardini zur Selbstapologie scheitert.
Reinhardt geht in sechs Abschnitten vor, die allerdings keine deutliche Zeitfolge abbilden. Die Titel sind dabei nicht leicht zu entschlüsseln: "Brüche und Aufbrüche"; "Republik, ragione di stato und Rollenkonflikte"; "Mythenstürzung und Menschenkunde"; "Die Entdeckung der Geschichte". Abgesehen vom ersten Kapitel, das eine knappe Biografie bietet, und dem Sechsten, das als Epilog die Form einer Burckhardt-Kritik annimmt, könnte jedes Kapitel auch eine andere Stelle einnehmen, ja selbst innerhalb der Kapitel erscheinen manche Abschnitte als austauschbar. Unablässige Vor- und Rückgriffe verstärken den Eindruck, dass hier ein Text spontan niedergeschrieben und ebenso spontan aufgeteilt wurde.
Die Grundthese von Reinhardts Essay ist noch relativ einfach referierbar; die Durchführung entzieht sich jedoch einer eindeutigen Rekonstruktion. Der moderne Machtstaat, angesiedelt im Entweder-Oder von Expansion und Untergang, erfordert eine 'neue Anthropologie' aller Republikaner. Sie kann nur durch eine neue, sozusagen 'anthropologiekonforme Verfassung' zu Stande kommen. Die Durchführung dieser These geschieht dann so, dass ihr unablässig Schwierigkeiten entgegengestellt werden, die aus dem zeitgenössischen politisch-historischen Diskurs stammen. Durch die Einwände wird die These zwar schwächer, bleibt aber notwendig, das heißt, Reinhardts Essay hält den skeptischen 'Widerspruch' bis zum Schluss durch. Trost wird dem Leser nicht gespendet. Atmosphärisch darf er sich an die Stimmung der 'Realpolitik' erinnert fühlen, unter der Jacob Burckhardt beim Abfassen seiner 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen' litt.
Die Arbeitsweise Reinhardts ist dagegen einfacher nachzuvollziehen als seine Argumentationsfolge. Er beginnt mit einem Zitat von Guicciardini, warum diese Stelle ausgewählt worden ist und aus welchem Zusammenhang, bleibt ungeklärt, und reagiert dann auf ihn. Der Ausdruck 'Reaktion' ist durchaus angebracht, denn Reinhardt ist von seinem Gegenstand ergriffen. Die Erregung Guicciardinis im euphorischen Diskurs greift auf ihn über und gibt Anlass zu weitausholenden Überlegungen, zu dem Versuch, den Leser mit ebenso prägnanten wie paradoxen Formulierungen zu überhäufen. Hier ein Beispiel: "Die auf Antagonismen gebaute Verfassungsarchitektur mag noch so viele zerstörerische Kräfte umlenken, ihre auf psychologische Einsichten gestützten, kunstvoll komponierten, in der Praxis stets aufs Neue zu erprobenden und gegebenenfalls zu perfektionierenden checks und balances mögen die Selbstzerstörung des Systems verhindern - ob sie hingegen jemals das Wachstumsklima des regelgeleiteten freien Wettbewerbs im Geiste einer schichtenübergreifenden republikanischen Wertegemeinschaft zu erzeugen vermögen, daran bleiben dauerhafte Zweifel, [...]" (94).
Wer so schreibt, dem muss man das Zugeständnis machen, dass er nicht nur viel sagen will, sondern dass er im Begriff steht, alles sagen zu wollen. Der Leser, an einer beliebigen Formulierung misstrauisch geworden, wird in der Regel kaum eine halbe Seite weiter schon mit einer Variante seines Zweifels oder seiner vorgreifenden Beseitigung konfrontiert. Indem Reinhardt das Prinzip des Widerspruchs so ernst nimmt, bringt er den Leser in eine missliche Lage. Wenn die Wirkung des Autors auf seinen Interpreten so mächtig inspirierend ist, was bleibt ihm dann noch zu tun? Was soll er denn denken, wenn ihm der Interpret alles vordenkt? Es passt kein Blatt zwischen Reinhardt und Guicciardini, so eng schmiegt sich ihr Denken aneinander.
Der Rezensent möchte nicht den Eindruck erwecken, Reinhardt hätte nicht viele kluge und komplexe Gedankenketten in seinem Essay niedergelegt. Er hat es sogar im Übermaß getan. Michael Borgolte hat ihm unlängst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.10.2004) vorgeworfen, er suche nach einer 'politischen Substanz oder Wesenheit' bei Guicciardini und dynamisiere seinen eigenen Erkenntnisansatz nicht hinlänglich. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig: Reinhardt macht bei seiner Generalisierung des Widerspruches nirgendwo halt. Eine heroische Komponente bei dem Florentiner, ein 'unglückliches Bewusstsein', wird entdeckt und bis zum Schluss ausgehalten, denn damit, so liest man es im Epilog, wird die falsche Eindeutigkeit (objektive Machtanalyse) aufgehoben, die Burckhardt Guicciardini mitteilte. Mit diesem Ergebnis, das darf man anerkennen, hat Reinhardt seinen 'paragone' mit dem Basler Seher, seinem zweiten Erreger, bestanden.
Nach der Lektüre verfestigt sich der Eindruck einer intensiven und sympathischen Hinwendung zu einem epochalen Autor, den man im deutschen Sprachgebiet zu wenig kennt. Dass er am 'Widerspruch', am Verlust eindeutiger Normen in der Politik litt, wird man nicht leugnen. Ist dies für uns jeder Norm entwöhnte Zeitgenossen ein wichtiges Ergebnis? In keiner Weise. Wissenswert ist allein die spezifische Form der Erfahrung des Verlusts der Normen beziehungsweise der ihnen zu Grunde liegenden Anthropologie. Man täusche sich nicht über die Ausgangslage hinweg: Es sind die Normen des späten 15. Jahrhunderts, deren Untergang man beiwohnt, nicht die unserer Epoche. Zur Verlusterfahrung des 16. Jahrhunderts führt allein die unvoreingenommene Lektüre des Originals. Im Text begegnet einem Guicciardini als ein Meister, der nicht daran dachte, sich irgendeiner Nachwelt anzubequemen. Wer ihn im Original liest, der versteht zunächst wenig. Bald entsteht der Wunsch, Wörter und Sachen ernst zu nehmen, bloße Aperçus und universale Interpretationen zu vermeiden.
Kurzum, es wächst das Bedürfnis, sich dem Autor 'philologisch' zu nähern. Um in Deutschland anzukommen, benötigte Guicciardini behutsame Übersetzer und Kommentatoren. Volker Reinhards Essay verstärkt den Wunsch nach solchen uneigennützigen Textpflegern. Er weist darauf hin, was uns alles fehlt: eine kommentierte Übersetzung der "Ricordi", eine Sammelausgabe der Staatsschriften und der Briefe. Seien wir ihm dankbar, dass er uns den fühlbaren Mangel an solchen Schätzen so nachdrücklich wie begeistert vor Augen geführt hat.
Markus Völkel