Valentin Groebner: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München: C.H.Beck 2004, 224 S., 14 Abb., ISBN 978-3-406-52238-3, EUR 24,90
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Eine Episode zu Beginn: "Mit was sich Historiker nicht alles beschäftigen!", wurde dem Rezensenten erstaunt zugerufen, als er sich während einer Zugfahrt den Band "Der Schein der Person" von Valentin Groebner in Vorbereitung dieser Rezension zu lesen anschickte und von seinem mitfahrenden Gegenüber auf das Buch und sein Thema angesprochen wurde. Der Ausruf, dem weitere im Abteil Mitreisende (oder genauer: mitreisende Nichthistoriker) beipflichteten, versetzte den Rezensenten in die langsam schon gewohnte Situation, Sinn und Zweck eines historischen Themas, hier eben von "Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters", für interessierte Laien auseinander zu setzen. In diesem konkreten Fall kam ihm zugute, dass er vorab Groebners achtes und letztes Kapitel (159-183), das zugleich als Nachwort fungiert, gelesen hatte: Es handelt von den aktuellen Bezügen, "denn", so schreibt Groebner für seine Leser erklärend (11), "ein Buch übers Mittelalter macht nur mit einem solchen expliziten aktuellen Bezug Sinn. Jede historische Untersuchung findet in der Gegenwart statt [...]." Was also an unserem heutigen Reisepass mittelalterlich ist: offizielle Zeichen und Wappen, und wie wichtig sie noch immer sind. "Kontrolliert wird ja nicht, ob die Person echt ist [...], sondern ob ihr Ausweis bestimmte Zeichen der Echtheit trägt" (160). Wie die Geschichte des Identifizierens verlief, sodass unsere Zeit "zur klassischen Epoche der Beschreibung und Erfassung des Menschen durch Techniken der Identifikation, bürokratische Register und Einwohnerstatistik" (162) wurde. Wie sehr "das Identifikationspapier Ausweis bis ins 20. Jahrhundert die repräsentative Urkunde geblieben ist, als die es im hohen und späten Mittelalter entstanden war", das "weniger von der Eigenart der Person selbst [kündet] als von bereits hergestellter Ordnung qua amtlicher Bescheinigung" (168). Welche schon mittelalterliche Genese biometrische Erkennungssysteme zur Identifikation aufweisen und wie fehlerhaft sie auch heute noch sein können. Dass die Geschichte des Identifizierens gleichzeitig eine "Geschichte der Reproduktionstechnologien" (178) und die "Position der Ausgeschlossenen" (180) ist. Was der Begriff "Identität" überhaupt bedeutet. Nachdem der Rezensent diese Gedanken Groebners dargelegt hatte, schienen seine Mitreisenden "beruhigt" bis befriedigt und ließen ihn in Ruhe weiterlesen.
Nach einem Vorwort (7-12), in welchen Groebner das Thema an sich näher erläutert - "Von den Geschichten und Vor-Geschichten des Identifizierens und ihrer Papiere handelt dieses Buch" (8) - und den Inhalt allgemein - "[...] ein Buch, in dem vieles fehlt [...] keine vollständige Geschichte der Erfassung und Beschreibung von Personen vor der Moderne, sondern ein Versuch, das Thema in Geschichten zu fassen, mit vielen losen Fäden, die im besten Fall von Anderen, Kompetenteren aufgenommen und weitergesponnen werden [...]" (9) - und en detail vorstellt, geht es im ersten Teil des Buchs, der von Kapitel 1 bis 5 reicht (13-108), "um das Verhältnis zwischen den kollektiven und den individuellen Kategorien, mit denen jemand beschrieben wurde - um Naturen, könnte man sagen" (9). Groebner beginnt seine "Identifikationsgeschichten" im ersten Kapitel (13-23) mit der einleitenden Frage "Sieht man sich selbst ähnlich?", wobei er "Burckhardts Schleier" vom Renaissancemythos der Naturtreue (15 ff.) ebenso lüftet wie "Zauberworte" (20 f.) beschwört und "Schemen" (21 ff.) zeichnet. Erklärend ist zu diesen - wie übrigens generell - reichlich verdunkelnd (oder man könnte auch, um in Groebners Bild zu bleiben, "Identifikation erschwerend" schreiben) formulierten Abschnittsüberschriften zu sagen, dass es darin um die Problematik des Forschungsbegriffs "Identität" und um den von Groebner stattdessen favorisierten Terminus "Ähnlichkeit" geht.
Nach dieser Einleitung handelt Kapitel 2 (24-47) unter der Überschrift "Bilder und Zeichen" von Siegeln, Wappen und Insignien, mittels derer man in der Vergangenheit eine Person ebenso gut darzustellen vermochte wie mit einem Porträt "nach der Natur" (27 ff.). In der Überschrift zum dritten Kapitel (48-67) fordert Groebner auf "Sag mir deinen Namen", um auf Registraturen zu sprechen zu kommen. Dabei beleuchtet er den im 13. Jahrhundert beginnenden Siegeszug des Papiers, mit dem auch neue Formen der schriftlichen Namensfixierung einsetzten. Außerdem berührt er darin - à la 'Kleider machen Leute' - die prominente Rolle, die Kleidung in frühen Personenbeschreibungen spielt. "Unter die Kleider" (10) führt Groebner dann im vierten Kapitel, das "Zeichen auf der Haut" zum Inhalt hat (68-84): Personen wurden mittels ihrer künstlichen Zeichen (zum Beispiel Tätowierungen oder Narben) identifiziert. Das Verhältnis von künstlichen zu natürlichen Hautzeichen (Haut-, Körperfarben) steht im Mittelpunkt des fünften Kapitels (85-108).
Mit dem sechsten (109-123) Kapitel setzt der zweite Teil des Buchs ein, der sich nicht mehr mit den Personen, sondern nunmehr mit den Dingen befasst, durch die jemand identifiziert wurde. Mit der Überschrift "Briefe und ihre Träger" ist es überschrieben. Das siebte Kapitel führt den Leser zu den Pässen selbst, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihren Ursprung in Italien, Frankreich und der Eidgenossenschaft hatten und nicht mehr wie bei den älteren Geleitbriefen ein Privileg darstellten, sondern zur Pflicht erhoben wurden (124-158): "Scheine: Die Verdoppelung der Person" ist seine Überschrift. Mit ihnen, so Groebner, sei die Fiktion der Ordnung einer unordentlichen Welt durch ihre möglichst vollständige schriftliche Erfassung und Verwaltung entstanden. Die versuchte Realisierung dieser Fiktion habe indes eine neue Figur hervorgebracht: den Hochstapler. Vom achten Kapitel, das "Große Apparate" lautet, war bereits die Rede. Anmerkungen (184-219), Abkürzungen (219) sowie ein Register (220-224) stehen am Schluss des Buchs.
Groebner legt mit dem "Schein der Person" ein gewiss innovatives Werk vor, innovativ im Aufbau, der keiner strengen Chronologie folgt, und natürlich im Gehalt, auch wenn ihn vielleicht nicht jeder Leser so wichtig nehmen wird wie der Verfasser selbst, der eingangs schreibt: "Es gibt nicht viele Erfindungen des Mittelalters, die uns weiterhin so nachdrücklich beschäftigen wie der Reisepass" (7). Es gibt freilich ebenso wenige Erfindungen des Mittelalters (Mechanische Uhr, Steigbügel, Pflug als ganz banale Exempla), von denen sich mit Fug und Recht das Gegenteil behaupten ließe. Unkonventionell gebraucht Groebner den Mittelalterbegriff, auf den allein im Buch(unter-)titel abgehoben wird. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt eindeutig im 16. Jahrhundert, insgesamt deckt Groebner die Zeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert ab. Für manchen Bereich hätte man sich breiter ausfallende Ausführungen gewünscht und auf mancher Seite eine gründlichere Redaktion (168 bietet eine zu 156 identische Textpassage). Groebner wartet mit unerwarteten Ergebnissen auf, etwa wenn er zeigt, wie die Instrumente zur Authentifikation stets auch zu Werkzeugen der Täuschung wurden. Für ihn ist die Geschichte der Personalausweise zugleich immer "Verwandlungsgeschichte": "Das Dokument transformierte denjenigen, der den besiegelten 'brieff' als [...] Ausweis seiner Person vorzeigen konnte, in das, was in und auf dem Dokument bescheinigt war" (123).
Das Buch besticht auf jeden Fall durch seinen kritikfreudigen Aktualitätsbezug (zum Beispiel 183), den man vielleicht jedoch nicht so deutlich unterstreichen muss, wie hier geschehen (11). Ein ungemeiner Gewinn ist der schwungvolle und manches Schmunzeln erregende Schreibduktus, etwa wenn es heißt "in unseren Reisepässen oder (wenn wir Pech haben) Steckbriefen [...]" (160), wenn von einem findigen Zeitgenossen die Rede ist, dem es gelang, mit authentisch wirkenden Papieren eines nicht existierenden Staates British Honduras nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz einzureisen und sich dort neun Monate lang aufzuhalten, was von Groebner lapidar mit den Worten: "Es hat ihm gefallen, hoffe ich", kommentiert wird (169), oder wenn Groebner zum Stichwort "strukturierte Repräsentation" ironisch fragt: "aber was, bitteschön, ist eigentlich keine strukturierte Repräsentation?" (20). Allerdings ist hier die Gefahr seichten Witzes oder einer verflachenden Darstellung stets präsent: "Mit dem Wort Identität lassen sich trefflich weitläufige Tagungspublikationen überschreiben, Forschungsmittel beantragen und Sonntagsreden halten. Nur arbeiten kann man damit nicht" (20 f.). Wie das Zitat zeigt, bemüht sich Groebner stellenweise um eine künstliche Distanz zum Wissenschaftsbetrieb, deren Sinnhaftigkeit sich dem Rezensenten gerade in einer Zeit, in der es in der außeruniversitären Welt mehr und mehr an der Akzeptanz (geistes-)wissenschaftlicher Anliegen gebricht, nicht erschließt. Noch offensichtlicher führt diese künstliche Distanz eine von Groebner erwähnte Anekdote vor Augen: Als er sein Buchprojekt "im historischen Seminar einer kleinen süddeutschen Universitätsstadt" vorgestellt habe, habe ein Lehrstuhlinhaber die Stirn gerunzelt und gefragt, wie er (Groebner) das alles leisten wolle und könne. "Das ist eine von den schönen deutschen Professorenfragen", fährt Groebner fort, "auf die es keine Antwort gibt [...] er hatte natürlich Recht, der strenge Professor" (9).
Bei aller gesunden Selbstironie, die Wissenschaftlern im Sinne des "Memento mori" wohl ansteht, macht die Anekdote deutlich, dass sich Groebners Buch vornehmlich an ein breiteres und außerhistorisches Publikum richtet. Dieses vermag es letztlich wohl zu überzeugen, wie das Erlebnis des Rezensenten bei seiner Bahnfahrt nahe legt. Das Urteil des Historikers fällt demgegenüber zwiespältig aus: Groebners Buch bietet einen mutig weitgespannten Bogen, ist spannend aktuell und angenehm unkonventionell und unprätentiös geschrieben, aber zuweilen erscheint es - wohlgemerkt gewollt (9) - doch etwas oberflächlich und schablonenhaft.
Oliver Auge