Marzio Bernasconi: Il cuore irrequieto dei papi. Percezione e valutazione ideologica del nepotismo sulla base dei dibattiti curiali del XVII secolo (= Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit; Bd. 7), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 256 S., ISBN 978-3-03910-339-3, EUR 47,60
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"Il tutto operai per politica e per ingrandire i miei." - wörtlich: "Das alles habe ich für Politik und zur Vergrößerung der Meinigen veranlasst" (217). Am Ende seines Lebens wendet sich Papst Alexander VIII. (Ottoboni, 1689-1691) in Gewissensqualen an seinen Beichtvater, um Schuld an der nepotistischen Regierungspraxis des Heiligen Stuhls einzugestehen. Passend beschreibt diese apologetische Aussage am Ende seines Geständnisses die "wahren" Absichten hinter dem Phänomen des von den Päpsten des 17. Jahrhunderts ausgiebigst betriebenen Nepotismus.
Bis zur offiziell verordneten Abschaffung des Kardinalnepoten durch Papst Innozenz XII. (Pignatelli, 1691-1700) bedienten sich die Päpste des Barock insbesondere verwandtschaftlicher Loyalität, um durch eine Art "ersten Minister" die päpstlichen Regierungsgeschäfte und Kanäle zur Bereicherung der eigenen Familie abzusichern. Die Institution des Kardinalnepoten wurde mit der Benennung Scipione Borgheses durch seinen Onkel Papst Paul V. (Borghese, 1605-1621) zum Modell: Durch den Ausschluss des Erblichkeitsprinzips wiesen Papsttum und Kirchenstaat ein eigentümliches Strukturmerkmal auf, funktionierten indes wie jeder andere frühmoderne Staat des 17. Jahrhunderts mittels klientelistischer Herrschaftspraxis. Die Familien, aus deren Reihen ein Mitglied zum Papst promoviert wurde, zielten auf den dauerhaften Aufstieg in die römische Hocharistokratie. Die antinepotistische Bulle von 1692 war Folge nicht mehr haltbarer finanzieller Missstände und internationaler Kritik.
Marzio Bernasconi wendet sich mit "Il cuore irrequieto dei Papi" (wörtlich: "Das unruhige Herz der Päpste"), ursprünglich an der Universität Fribourg (Schweiz) als Dissertation vorgelegt, dem Diskurs des Nepotismus im 17. Jahrhundert zu: Aufgrund der "ambiguità" des päpstlichen Amtes zwischen institutionalisiertem "Heiligem" und weltlichem Oberhaupt trieb es Päpste wiederholt zur Legitimierung der nepotistischen Instrumentarien. Eine Fülle von Briefen an die Päpste - vor allem von Kardinälen -, Traktaten und Gesandtschaftsrelationen zeigt die soziale Verankerung von Verhaltensnormen und Wahrnehmung des mitunter kontrovers beurteilten Phänomens des päpstlichen Nepotismus. Die Ernennungsurkunden für Papstneffen zu Kardinälen, Staatssekretären und besonders zu Kardinalnepoten spiegeln den meritokratischen Rechtfertigungsansatz zu Gunsten einer im Verlauf des Jahrhunderts zusehends in Verruf geratenden Institution. Bei der Bevorzugung der eigenen Familie dürfte es sich eigentlich um eine anthropologische Grundkonstante handeln.
Mit seinem selbst gesteckten Ziel, Ideologie und Mentalität des päpstlichen Nepotismus anhand der Argumentationen an der Kurie, der Kritik von Literaten und den Beobachtungen von Gesandten darzustellen, füllt Marzio Bernasconi eine interessante Forschungslücke. Dabei schöpft er - mitunter durch erfreulich lange Zitate belegt - aus Korrespondenzen und Schriftstücken vornehmlich der Familienarchive im Archivio Segreto Vaticano (ASV) sowie in der Biblioteca Apostolica Vaticana, den Dokumenten der apostolischen Segreteria (ASV), gedruckten Abhandlungen wie diejenigen des Gregorio Leti (1667/68) oder den venezianischen Gesandtschaftsberichten. Die umfangreichen Forschungsergebnisse zum Nepotismus des barocken Rom von zunächst Wolfgang Reinhard und dann Volker Reinhardt (1. Gutachter der Dissertation) sowie in Anknüpfung daran von Arne Karsten, Daniel Büchel, Philipp Zitzlsperger, Birgit Emich und Irene Fosi bilden die reichhaltige Grundlage und Voraussetzung der Analyse Bernasconis.
Nach einer kursorischen Einleitung präsentiert Bernasconi die Meinungsäußerungen und Darstellungen zum päpstlichen Nepotismus anhand einiger Anlässe, zu denen Päpste die Debatte anstießen, und Gesandtschaftsrelationen, die den speziellen Menschenschlag des 'uomo di curia' zu verstehen suchten. Die bemerkenswerte Fallstudie des Pontifikats Alexanders VII. (Chigi, 1655-1667) ist dabei besonders aussagekräftig: Denn Fabio Chigi entschied sich zunächst bewusst gegen jedweden Nepotismus, bevor er unter dem Druck sozialer Realitäten wie auch der Mehrheit der Kardinäle nach nur einem Jahr nachgab und, den anfänglichen Enthusiasmus etlicher Beobachter enttäuschend, seine Verwandten exzessiv mit römischen Pfründen versorgte.
In einem Hauptteil (79-167) entfaltet Marzio Bernasconi katalogisch die Argumentationen der Befürworter und Gegner des päpstlichen Nepotismus: Dabei gliedern sich die Standpunkte des Für und Wider danach, inwieweit das Papsttum eher aus politischer (pro) oder spiritueller (contra) Perspektive bewertet wurde. Während die Befürworter insbesondere die "pietas" des Papstes gegenüber der eigenen Familie entdeckten sowie die auf dem glatten Parkett der Kurie stabilisierende Funktion des Vertrauens in verwandtschaftliche Bindungen ins Feld führten, trat argumentativ aufseiten der Gegner die überparteiliche Stellung des Papstes als patrimonialem Haupt der Christenheit und die beißende Kritik an der Misswirtschaft Unfähiger in den Vordergrund.
In einem Zwischenkapitel werden die Reaktionen der Kardinäle und kommentierenden Beobachter auf die anfänglich noch chancenlosen Versuche, die nepotistischen Instrumente einzudämmen, zusammengefasst. Tatsächlich sollten die von den Päpsten angestoßenen Dispute zur Beruhigung des gequälten pontifikalen Gewissens dienen - meritokratische Argumente wiesen den Ausweg.
Ein weiterer Hauptteil (185-223) behandelt entlang den Pontifikaten des Seicento den meritokratischen Diskurs der nepotistischen Ernennungsbullen. Als Papst Innozenz XI. (Odescalchi, 1676-1684) nach eigenständigem Verzicht auf die Benennung eines Kardinalnepoten 1679 eine erste antinepotistische Bulle den Kardinälen zur Beurteilung vorgelegt hatte, erntete er freundliches Lob, gepaart mit kalter Ablehnung. Nach dem (durch den päpstlichen Namen signalisierten) programmatischen Rückfall mit Alexander VIII. nutzte endlich Innozenz XII., der selbst in der üblichen, durch kurialen Klientelismus geebneten Karriere aufgestiegen war, die antinepotistische Stimmung, um mit einer selbstkritischen Bulle den Kardinalnepoten abzuschaffen. Clemens XI. (Albani, 1700-1712) wagte kein institutionelles Zurück, doch zeigt die Erhebung seines Neffen zum Kardinal (erst 1711) mit der gängigen meritokratischen Begründung schlaglichtartig das Fortleben des Nepotismus im 18. Jahrhundert.
Der Anhang aus insgesamt 23 transkribierten päpstlichen Bullen zwischen 1621 (Kardinalserhebung Ludovico Ludovisis) und 1711 (Kardinalserhebung Annibale Albanis), in denen die für den meritokratischen Diskurs bedeutsamen Stellen kursiv gedruckt sind, und ein Index runden das Bild positiv ab.
Die Stärke der Arbeit Bernasconis liegt in ihrem quellennahen Detailreichtum, wodurch der Autor nicht nur seinem eigenen Anspruch gerecht wird ("[...] creare un fitto reticolo di convergenze, di ridondanze, ma anche di discrepanze, di paradossi e di silenzi sospetti [...]", 23), sondern auch einen Blick in die Tiefe der kurialen Gesellschaft ermöglicht.
Allerdings spart Marzio Bernasconi mit weiterführenden Literaturhinweisen und belegt seine Ausführungen nur wenig. Kaum greift er methodisch oder faktenbezogen auf Literatur außerhalb der oben genannten Nepotismus-Kenner zurück. Ebenso erstaunlich ist, dass er eine Diskursanalyse ohne jede sprachwissenschaftlich vertiefte Methode durchführt. Zudem werden die Argumente der meritokratischen Bullen aus dem Anhang nicht eingehend analysiert. Auch gewinnen die Argumentationsschemata (deren systematische Auflistung - abwechselnd pro und contra - nicht überzeugt) nicht an sozialer Bedeutung: Außer Gregorio Leti als Autor einer ausführlichen Darstellung der römischen Verhältnisse oder Kardinal Roberto Bellarmino als antinepotistische Stimme werden die sich äußernden Personen kaum individuell begriffen und sozial verortet. Der dokumentarische Reichtum wird nicht genutzt, um komplexe Handlungsmodelle zu entwickeln. Der klientelistische Aufstieg im Milieu der barocken Kurie wird, mit Ausnahme von Fabio Chigi und in Ansätzen Pignatellis, ausgeklammert. Außerdem treten unnötige Wiederholungen auf, in denen etwa die Bemerkung über die Relevanz des Gewissens der Päpste betont wird.
Heinrich Lang