Stefan Samerski: "Wie im Himmel, so auf Erden?". Selig- und Heiligsprechung in der katholischen Kirche 1740 bis 1870 (= Münchener Kirchenhistorische Studien; Bd. 10), Stuttgart: W. Kohlhammer 2002, 512 S., ISBN 978-3-17-016977-7, EUR 50,00
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Heilige haben eine zeitgemäße Botschaft. Anhand der Selig- und Heiligsprechungsverfahren lässt sich zeigen, welche aktuelle Bedeutung einer als heilig verehrten Person beigemessen wurde. Diese Praxis nahm in Krisenzeiten jeweils an Quantität zu - eine These, deren aktueller Bezug durch die heute inflationär wirkenden Selig- und Heiligsprechungen unter Papst Johannes Paul II. deutlich ist.
Während die Heiligenverehrung von der Alten Kirche bis zum Mittelalter relativ gut erforscht ist, holt die Studie von Samerski hier einen kirchengeschichtlichen Rückstand für die Neuzeit auf. Sie versteht sich dabei als "Hinführung und Anregung zur Untersuchung neuer Themenhorizonte" (498 f.), was angesichts der Fülle des Quellenmaterials und der verschiedenen Aspekte einsichtig ist. So könnten nicht nur die von Samerski konsultierten Aktenmassen der früheren Ritenkongregation (heute vor allem in der Congregazione per le Cause dei Santi in Rom aufbewahrt) noch weiter ausgewertet, sondern auch noch die lokalen Überlieferungen aus Bistumsarchiven herangezogen werden, um die Verfahren in den Blick zu bekommen, die von Bistumsseite initiiert und in Rom nicht aufgenommen wurden. Die Studie schafft hier mit der Erforschung der römischen Perspektive eine solide Ausgangsbasis. In ihrem Zentrum stehen Heiligentypen. Dadurch eröffnet sie neue systematische Ansätze, die es in weiteren Studien zu überprüfen und zu differenzieren gilt.
Die Arbeit behandelt den Zeitraum von 1740 bis 1870, wobei immer wieder Motivstränge (Entwicklung des Prozessverfahrens, Heiligenideale, Märtyrerkult) in einer longue durée verortet werden. Der Beginn des Untersuchungszeitraums mit Papst Benedikt XIV. überzeugt, nachdem dieser durch seine Neuordnung des Verfahrens wegweisend wurde. Dass die ansonsten papstgeschichtlich orientierte Studie nicht das ganze Pontifikat Pius IX. (bis 1878) einbezieht, wirkt etwas willkürlich, zumal die Bedeutung dieses Papstes für die Verfahren deutlich herausgearbeitet ist, sodass das Jahr 1870 hier vermutlich keine Zäsur darstellte.
Die Studie gliedert sich in fünf Teile. Teil I (61-83) behandelt die Entwicklung des Prozessverfahrens sowie die zuständige Behörde der Ritenkongregation. Ferner wird der idealtypische Ablauf des Selig- und Heiligsprechungsverfahrens nach Benedikt XIV. vorgestellt.
Teil II (85-169) zeigt exemplarisch an den Pontifikaten Benedikt XIV., Clemens XIII., Pius VI. und Pius IX., dass die Kultapprobation ein integrativer Bestandteil der Papstgeschichte darstellt. So lässt sich für Papst Benedikt XIV. eine persönliche Vorliebe für die Gründerin der Salesianerinnen, Giovanna Francesca di Chantal (1572-1641), zeigen, welche ihren Prozess entscheidend förderte. Clemens XIII. trieb die Beatifikationsprozesse von Jesuiten aktiv voran, während die Gesellschaft Jesu in Europa vor ihrer Auflösung stand. Während seines Pontifikats kam es auch zu einem neuen Verhältnis zwischen römischer Kurie und venezianischem Senat. Die Serenissima wollte durch Heiligsprechungen ihr Ansehen heben - ein Interesse, welches mit dem des venezianischen Papstes und seiner Familie korrespondierte. Pius VI. beschleunigte das Verfahren und baute die Kultapprobation zum kirchenpolitischen Instrument gegen den Zeitgeist der Aufklärung aus. Damit weist er auf Pius IX. hin, der dieses Anliegen universalistisch steigerte.
Nachdem die wichtigsten Entwicklungsschritte der Instrumentalisierung von Selig- und Heiligsprechungen skizziert wurden, entfaltet der umfangreichste dritte Teil (171-396) die damit korrespondierenden Heiligentypen. Jan Sarkander (Jubiläumsheiliger, Staatsprotektor, Nationalpatron), der unter Folter nach dem böhmischen Aufstand starb, wurde zunächst lokal verehrt (man machte aus seiner Folterkammer eine Kapelle), ehe das österreichische Kaiserhaus ihn im Sinne der Pietas austriaca förderte. Die politische Lage in den Ländern der böhmischen Krone verschleppte den bereits 1715 eröffneten Seligsprechungsprozess, und im 19. Jahrhundert wurde Sarkander zum zwischen Österreich und Mähren umstrittenen Nationalpatron. Die Bedeutung des Olmützer Bischofs für diese Causa zeigt, dass weltlicher Alleingang - auch bei großem staatlichen Einfluss - nie zum Ziel führte ebenso wie die Möglichkeit des Etikettenwechsels bei einander sich ablösenden Instrumentalisierungen. Das zweite Kapitel (Farmacia Vaticana) demonstriert anhand einiger Beispiele, wie Heilige "gemacht" und bewusst funktionalisiert wurden. So ging es 1853 bei der Seligsprechung des Juan Grande (1546-1600) um die Reorganisation des Hospitalwesens. Die 26 japanischen Märtyrer, die 1826 heilig gesprochen wurden, sollten als Vorbilder für Missionare dienen. Die 1803 erfolgte Seligsprechung des Theatiners Kardinal Giuseppe Maria Tomasi (1649-1713) deckt den mangelnden Zusammenhang zwischen Volksverehrung und Sanktionspraxis auf, indem hier eine lebendige Verehrung des Grabes von der Ritenkongregation vorgetäuscht wurde. Das dritte Kapitel stellt Familienheilige als "Zuspitzung eines besonderen sozialen Beziehungsgeflechts" (217) vor. Der Wunsch, einen seligen oder heiligen Verwandten zu haben, stellte nachweislich einen erheblichen Faktor für das Prozessverfahren dar. Die Jesuitenheiligen (Kapitel 4) zeigen, dass Selig- und Heiligsprechung einen Indikator für den innerkirchlichen Einfluss eines Großordens darstellte. So war die Kanonisation im 17. Jahrhundert von Jesuitenkandidaten dominiert. Sie brach parallel zum Ordensniedergang zwischen 1740 und 1806 ein, um dann in den 1830er-Jahren einen kometengleichen Aufschwung zu nehmen. Dabei arbeitet Samerski den jeweiligen Einfluss des Papstes für diese Entwicklung heraus.
Mit der Französischen Revolution kam ein neuer Heiligentypus ("Revolutions-Heilige?") auf (Kapitel 5). Da die Tugenddiskussion erst 50 Jahre nach dem Tod aufgenommen werden konnte, schieden die Revolutionsmärtyrer zunächst aus und die Ritenkongregation entdeckte "antirevolutionäre Kampftypen" in Francesco de Gerolamo und Alfons von Liguori. Das sechste Kapitel geht auf die Entwicklung des weltkirchlichen Selbstbewusstseins ein, und zeigt anhand erster Ansätze nach den napoleonischen Wirren, dem Aufbruch unter Gregor XVI. und dem Durchbruch unter Pius IX., wie die jeweiligen Causen auf die Weltmission zugeschnitten waren. Das siebte Kapitel behandelt analog (Ansätze, Gregor XVI., Pius IX.) "das wiederentdeckte Martyrium". Pius IX. hebelte das Prozessverfahren geradezu aus, um der Martyriumsidee ihren Siegeszug zu ermöglichen. Unter seinem Pontifikat war der Begriff "Märtyrer" fast synonym mit der Grundbefindlichkeit des "wahren Katholiken" (382).
Teil IV (397-453) bündelt die Ergebnisse der bisherigen Darstellung in vier Grundkonstanten der Kanonisierungspraxis: Die Dominanz der Ordensheiligen, die überproportionale Häufigkeit von Heiligen aus dem Mezzogiorno (Süditalien), der Bonus des "Adels" sowie der "Romanitas". Interessanterweise ist die überdurchschnittlich hohe Adelsquote bis zum Ersten Vatikanum ohne Einbußen zu beobachten (438). Bis zur universalistischen Öffnung unter Pius IX. bevorzugte die Kurie Kandidaten mit Verbindung nach Rom.
Der letzte Teil (455-491) widmet sich dem immer wieder angesprochenen Aspekt der Finanzierung. Zwar sind Zahlen über den realen Umfang der Prozesskosten (neben den Gebühren sind auch Trinkgelder et cetera zu beachten) schwer zu ermitteln, doch wird deutlich, dass die hohen Kosten den Kreis der Kandidaten einschränkte. Auch daraus erklärt sich die Dominanz der zentral organisierten Großorden.
Insgesamt stellt die Arbeit mit ihrer Materialfülle und analytischer Klarheit eine beachtliche Pionierleistung für die Geschichte der Selig- und Heiligsprechungen in der Neuzeit dar, die zu weiteren Forschungen auf diesem Feld anregt. Eine Erleichterung für die weitere Benutzung wäre es gewesen, der systematisch gegliederten Arbeit eine Tabelle mit allen behandelten Causen anzufügen. Es bleibt zu wünschen, dass die Anregungen Samerskis für weitere Studien rezipiert werden. Neben der bereits erwähnten bistumsgeschichtlichen Perspektive wären auch verstärkt frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen wünschenswert, die dem Verfasser zufolge in den Postulationsarchiven wertvolle Quellen finden könnten.
Nicole Priesching