Reinhardt Butz / Jan Hirschbiegel / Dietmar Willoweit (Hgg.): Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phönomen (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 22), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, IX + 268 S., ISBN 978-3-412-04604-0, EUR 39,90
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Jan Hirschbiegel / Sascha Winter / Sven Rabeler (Hgg.): Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800). Ein Handbuch. Abteilung II: Soziale Gruppen, Ökonomien und politische Strukturen in Residenzstädten. Teil 1: Exemplarische Studien (Norden), Ostfildern: Thorbecke 2020
Gerhard Fouquet / Jan Hirschbiegel / Werner Paravicini (Hgg.): Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Ostfildern: Thorbecke 2008
Nur in wenigen Forschungsfeldern der Geschichtswissenschaft werden so zahlreich sozialwissenschaftliche Modelle und Theorien zur historischen Interpretation herangezogen wie auf dem Feld der Hof-Forschung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade die Erforschung von Höfen ohne Theorieanbindung nicht auszukommen scheint. Hofhaltung war und ist ein allgemeines Strukturphänomen monarchischer Herrschaft: Höfe existierten nicht nur zu allen Zeiten von der Antike bis heute, sie lassen sich darüber hinaus auch in den unterschiedlichsten Kulturen antreffen. Hof und Hofhaltung sind daher ein äußerst vielgestaltiges historisches Phänomen, das die Abstraktion vom Einzelfall geradezu erzwingt, will man die verschiedenen Ausformungen von Hofbildung auf einen Begriff bringen und die Vergleichbarkeit erhöhen. Sozialtheorien können ein geeignetes Mittel sein, um unterschiedliche Fürstenhöfe mit einem gleich lautenden Fragenkatalog zu untersuchen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu befragen. Dabei dienen die herangezogenen Theoriemodelle meist dazu, die Funktion des Hofes für die Herrschaft des Monarchen zu bestimmen.
Bereits die Zeitgenossen suchten das komplexe Phänomen Hof auf den Begriff zu bringen. Diesen Versuchen widmet sich Rainer A. Müller in seinem Beitrag über den Hof als Objekt der Hausväterliteratur und der Regimentstraktate. Erste taugliche Versuche zur Klassifizierung unterschiedlicher Hoftypen und zur Definition des Hofes wurden demnach bereits in der Frühen Neuzeit unternommen, zum Beispiel von Friedrich Carl von Moser in seinem zweibändigen Werk "Teutsches Hof-Recht" von 1754/61.
Manche Definitionen von Moser finden sich auch in Aloys Winterlings Beitrag wieder, der den Hof idealtypisch zu bestimmen versucht. Seine Definition des Hofes als erweitertes "Haus eines Monarchen" (78) entspricht durchaus zeitgenössischen Konzepten der Hofbeschreibung. Auch Winterlings Charakterisierung der Kommunikationsbedingungen frühneuzeitlicher Fürstenhöfe - der Kampf um die fürstliche Gunst, die Labilität der Beziehungen sowie die Notwendigkeit zu opportunistischem Verhalten der Höflinge - war den Zeitgenossen keineswegs fremd.
Jeroen Duindam wendet sich mit Norbert Elias einem Klassiker der Hofforschung zu, der vielleicht als Gründervater dieser Forschungsrichtung in der Geschichtswissenschaft angesehen werden darf. Auf den Nutzen für die zukünftige Forschung befragt, hält Duindam Norbert Elias' Erklärungsansatz zur Deutung der höfischen Gesellschaft größtenteils für überholt. Die Deutung des Hofes als königlichem Machtmittel zur Domestizierung des Adels ist von der historischen Forschung mittlerweile verworfen worden, ebenso seine sozialhistorische Klassifizierung der Auseinandersetzungen am Hof als Kampf zwischen Bürgertum und Adel. Diese Überzeichnungen schreibt Duindam Elias' Versuch zu, zusammen mit seiner Interpretation des französischen Königshofes ein gleichsam universal gültiges Modell des Hofes zu entwickeln und dem Hof entscheidende Bedeutung bei lang andauernden historischen Prozessen wie dem Zivilisationsprozess zuzuschreiben.
Ulf Christian Ewert und Harm von Seggern überprüfen beide die Übertragbarkeit wirtschaftswissenschaftlicher Erklärungsmodelle auf das Phänomen fürstlicher Hofhaltung. Von Seggern wendet sich hierfür der Theorie der "zentralen Orte" Walter Christallers zu. Diese Theorie hat eigentlich die Stadtentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert zum Gegenstand und nicht die Residenzenbildung in der Vormoderne. Von Seggerns Fazit klingt dementsprechend ernüchternd: Die Theorie der zentralen Orte ermögliche eine Blickschärfung für die Probleme des Raumes, die sich einer Landesherrschaft jeweils stellten.
Ulf Christian Ewert sucht in seinem Beitrag Erklärungsmodelle der Wirtschaftswissenschaften zur Interpretation sozialer Interaktion an den Fürstenhöfen der Vormoderne nutzbar zu machen. Der Hof wird dabei als Markt gedeutet, an dem neben Geld auch der Austausch symbolischer Güter wie Ehre erfolgte. Dabei berücksichtigt Ewert durchaus, dass es sich keineswegs um einen freien Markt handelte - nur der Herrscher konnte am Hof Gunst verleihen, und nur er verlangte nach Hofdiensten. Dass die Marktmetapher denn auch nicht vollständig zu überzeugen vermag, gesteht Ewert in seinem Schlusswort selber ein (73). Gleichwohl geht er dieser Metapher - die ein Spiel freier Partner und das Aushandeln unter Gleichen suggeriert - auf den Leim, wenn er Hofordnungen als "eine Art von Vertrag zwischen Fürst und Hofgesellschaft" (68) deutet. Hofordnungen waren aber kein Vertrag zweier Vertragspartner, sondern Teil der fürstlichen Gesetzgebung, wie Dietmar Willoweit in seinem Beitrag über "Hofordnungen als Zeugnisse des Rechtsdenkens" unmissverständlich deutlich macht. Dass Fürstenhöfe zugleich Zentren fürstlicher Herrschaftsausübung waren, ist ein Aspekt, der in der Deutung des Fürstenhofes als "Markt" verloren zu gehen droht.
Jan Hirschbiegel versucht, mithilfe von Niklas Luhmanns Systemtheorie ein allgemeines Hofmodell zu entwerfen. Der Hof leiste als soziales System "die segmentäre, stratifikatorische und funktionale Ausdifferenzierung von Strukturen und Strukturelementen zum Zweck der Reduktion und Selektion von Umweltkomplexität mit dem Ziel der kongruenten Generalisierung von Verhaltenserwartungen" (48), so Hirschbiegel. Es ist fraglich, ob der Hof-Forschung mit Feststellungen dieser Art wirklich geholfen ist. Zum einen wird man Luhmanns Systemtheorie kaum in dieser Feststellung wieder finden. Da sich Luhmann zufolge die Gesellschaft im Laufe der historischen Entwicklung von einer segmentär differenzierten Gesellschaft (zum Beispiel in Stämmen) über eine stratifikatorisch differenzierte (das heißt nach Schichten und Ständen) in der Moderne schließlich zu einer funktional differenzierten Gesellschaft entwickelt habe, dürften sich am Fürstenhof wohl kaum alle drei Differenzierungstypen gleichzeitig wieder finden lassen. Zum anderen aber ist zu fragen, in welcher Weise das Hofmodell Hirschbiegels dem Historiker als Erklärungshilfe dienen kann. Der theoretische Aufwand steht offenkundig in keinem vernünftigen Verhältnis zum letztlich erkennbaren Ertrag für die historische Interpretation.
Vielleicht ist es von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen, sich auf die Suche nach dem für alle Einzelfälle tauglichen Hofmodell zu begeben. Statt die unterschiedlichsten Modelle in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften heranzuziehen und sie dem historischen Phänomen des Hofes mehr oder weniger gewaltsam überzustülpen, sollte man lieber versuchen, ausgehend vom empirischen Befund allgemeine Begriffsbildung zu betreiben. Dabei mag es hilfreich sein, nicht nur einen kleinen Ausschnitt vormoderner Hofhaltung als Vergleichsmaßstab heranzuziehen. Es ist immerhin auffällig, dass sich die Mehrheit der Beiträge bei der Überprüfung der Aussagekraft der Theorien ausschließlich mittelalterlichen Höfen zuwendet.
Dass auch die Charakterisierung der Höfe im Mittelalter nicht ganz einfach zu sein scheint, zeigt der Beitrag von Reinhardt Butz und Lars-Arne Dannenberg. Er trägt zwar die Überschrift "Überlegungen zu Theoriebildungen des Hofes". Statt allgemeine Überlegungen zu präsentieren, widmet sich dieser Beitrag indes beinahe ausschließlich den Höfen im Mittelalter. Hier kommen beide Autoren zu mitunter befremdlichen Feststellungen. So sei der Hof "gleichsam Verfassungsmitte" (9), in ihm "kulminierten die Säulen des Verfassungsaufbaus aus Legislative, Exekutive, Judikative und Administrative" (12). Die Aussagen zur Inszenierung fürstlicher Herrschaftsgewalt am Hof sind ebenfalls wenig erhellend: "Sowohl sichtbare als auch unsichtbare Machtmittel zu visualisieren, bedarf es eines benötigen [sic!] ein komplexen und differenzierten Herangehens an die Inszenierungsleistung, da beide Bereiche sich einander [sic!] beziehen. Nur so wirkt die demonstrativ vorgebrachte Macht strukturierend und orientierend, v.a. dann, wenn sie vergegenständlichte Formen annimmt und greifbar eingesetzt wird" (30). Feststellungen dieser Art lassen den Leser wohl ratlos zurück.
Sozialtheorien sind für die Geschichtswissenschaft ein wesentlicher Bestandteil, um historische Erkenntnis zu fördern - ein Selbstzweck sind sie nicht. Sozialtheorien können dazu dienen, die Vielfalt empirischer Erkenntnis zu Idealtypen zu bündeln, um auf diese Weise den Vergleich scheinbar völlig unterschiedlicher Phänomene zu erleichtern und die Funktionalität historischer Phänomene zu bestimmen. Dem Historiker indes obliegt es, diesen Erkenntnisgewinn nicht nur zu postulieren, sondern auch für den Leser verständlich nachzuweisen. Gerade die Beiträge dieses Sammelbandes, die mit der Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien die größten Hoffnungen verbinden, werden diesem Anspruch am wenigsten gerecht. Dies ist indes nicht notwendigerweise ein Problem der verwendeten Theorien selbst, sondern eher ein Problem ihrer Anwendung. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Hof und Theorie bleibt jedenfalls auch nach diesem Sammelband unvermindert aktuell.
Andreas Pečar