Wolfgang Mühlfriedel / Edith Hellmuth: Carl Zeiss in Jena 1945-1990 (= CarlZeiss. Die Geschichte eines Unternehmens; Bd. 3), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, XIV + 385 S., ISBN 978-3-412-11196-0, EUR 39,90
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Mit dem vorliegenden dritten Band zur Geschichte der Firma Carl Zeiss Jena hat eines der umfangreichsten unternehmensgeschichtlichen Projekte der jüngsten Zeit seinen Abschluss gefunden. Während der zweite Band zum Zeitraum 1905 bis 1945 vom derzeitigen Jenaer Lehrstuhlinhaber für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Rolf Walter, verfasst wurde, stammen der erste wie der Schlussband aus der Feder von Walters Vorgänger Wolfgang Mühlfriedel und der ehemaligen Leiterin des Zeiss-Unternehmensarchivs Edith Hellmuth. [1] Für die Unternehmensentwicklung nach 1945 regt besonders die Existenz zweier konkurrierender Schwesterfirmen im ostdeutschen Jena und im westdeutschen Oberkochen das Interesse an. Die Oberkochener Perspektive hat mittlerweile der Stuttgarter Historiker Armin Hermann in mehreren Büchern beleuchtet [2], während die Jenaer Sicht den roten Faden der vorliegenden Darstellung bildet. Die Arbeit basiert im Wesentlichen auf den umfangreich erhaltenen und sehr gut erschlossenen Beständen des Zeiss-Unternehmensarchivs in Jena. Diese wurden durch veröffentlichte Quellen, einige Dokumente aus Privatarchiven und existierende Publikationen zu Einzelaspekten ergänzt. Als Ziel formulieren die Autoren, eine "erste Gesamtschau" vorzulegen und dabei die "Wechselverhältnisse" zwischen "den inneren Vorgängen" in Betrieb und Kombinat sowie "dem allgemeinen Geschichtsverlauf darzustellen und dabei möglichst alle Seiten des betrieblichen Lebens und deren Korrespondenz zu erfassen" (IX).
Mühlfriedel und Hellmuth beginnen mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen im April 1945 und enden mit der Privatisierung des Zeiss-Kombinates im Juni 1990. Die dazwischen liegenden 45 Jahre untergliedern sie chronologisch in vier Perioden und insgesamt zwölf Kapitel. Die erste Periode behandelt die amerikanische und sowjetische Besatzungszeit, die Auseinandersetzungen um Westverbringung, Teildemontage, Wiederaufbau, Verstaatlichung sowie Gründung des Oberkochener Westunternehmens. Sie endet 1948 mit der Umwandlung von Zeiss Jena in einen Volkseigenen Betrieb. In der zweiten Periode wird die Integration des Zeiss-Werkes in die sozialistische Planwirtschaft unter Führung des ersten Werkleiters Hugo Schrade bis 1964 abgehandelt. Die sich anschließende dritte Periode widmet sich den dynamischen Umbrüchen ab 1965, den Folgen des Neuen Ökonomischen Systems, dem Aufstieg des Unternehmens zu einem zentralen Industriekombinat der Branche wissenschaftlicher Gerätebau und Mikroelektronik und die damit einhergehenden ökonomischen und politischen Verwerfungen und Krisen. Hier findet sich auch die spannende Geschichte der juristisch-politischen Auseinandersetzung zwischen Zeiss in Ost und West, der so genannte "Warenzeichenprozess", der vor Gerichten in aller Welt durchgefochten wurde und sich vom Beginn der 1950er-Jahre bis in die 1970er-Jahre hinein erstreckte. Die letzte Periode beginnt 1976 und umfasst die Amtszeit des Generaldirektors Wolfgang Biermann. Biermann führte mithilfe seines strengen persönlichen Regimes eine erfolgreiche Reorganisation des Zeiss-Kombinates durch. In seiner Zeit der späten 1970er- und 1980er-Jahre fällt auch eine weitere Expansion des Kombinates und ein zunehmendes Engagement im militärtechnischen Sektor sowie im Mikroelektronikprogramm der DDR. Gleichzeitig konnte Zeiss Jena seine Position auf den internationalen, auch westlichen Märkten ausbauen. Diese Erfolgsgeschichte endete im Wendeherbst 1989 mit Biermanns Absetzung und 1990 mit der Privatisierung und der Übergabe der Kombinatsbetriebe an die Treuhandanstalt.
In die Kapitel eingearbeitet sind detaillierte Abschnitte zur Technik- und Entwicklungsgeschichte des Zeiss-Produktionsprogramms, zur Betriebs- und Strukturentwicklung des Betriebes beziehungsweise des Kombinates, zur sozialen und ökonomischen Lage der Zeiss-Beschäftigten sowie zu den Eigenheiten und Problemen der Absatzmärkte im RGW und im Westen. Die dichten Informationen des Textes werden mit insgesamt 70 Fotografien ergänzt und aufgelockert. Im Anhang finden sich - in 46 Tabellen aufbereitet - statistische Daten zur Unternehmensentwicklung. Diese bieten dem Leser die Möglichkeit zur weiteren Vertiefung des Materials. Das Buch lebt zu einem großen Teil aus den Erfahrungen der beiden Autoren. Mühlfriedel kann seine historischen Arbeiten zur DDR-Planwirtschaft einbringen und schafft es, die Entwicklung des Unternehmens im Spannungsfeld von Eigendynamik, SED-Wirtschaftspolitik und den Regeln des DDR-Planapparates aufzuzeigen. Die Diplom-Ingenieurin Hellmuth ergänzt diese Sicht mit ihrem präzisen Sinn für die wissenschaftlich-technischen Veränderungen und Neuerungen im Werk.
Das Buch gibt insgesamt einen informativen Einblick in die Widersprüche des ökonomischen Alltags eines DDR-Staatsbetriebs. Am besten gelingt dies in den Kapiteln zum Neuen Ökonomischen System und zum Beginn der Ära Honecker, in der Zeiss eine dynamische Expansion durchlief. Besonders hervorzuheben sind auch die Kapitel zu den Besatzungszeiten. Hier wird der bisherige Wissensstand der Literatur mit neuen Dokumenten maßgeblich erweitert. So erscheint die alte Zeiss-Geschäftsleitung im neuen Licht keineswegs als passiv oder widerständig, sondern als aktiver Betreiber der Verlagerung von Fach- und Führungskräften und wichtiger Dokumente durch die US-Streitkräfte in Richtung Westen.
Problematisch am Vorgehen der Autoren ist deren Beschränkung auf das Jenaer Archivgut. Weder wurden die Hinterlassenschaften der zentralen Partei- und Planungsebene im Berliner Bundesarchiv noch die der Kreis- und Bezirkebene ausgewertet. Hier wurde nur auf bereits vorhandene Studien, offizielle Beschlüsse oder Parallelüberlieferungen in Jena zurückgegriffen. Da die Autoren die enge Wechselwirkung zwischen Unternehmen und Zentrale in ihrer Studie selbst betonen und immer wieder aufzeigen, wurden hier wertvolle Dokumente außen vor gelassen. Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die oft doch zu detailorientierte Darstellung. Es hätte sicherlich nicht geschadet, die eine oder andere Zahl oder manchen Namen weniger aufzuführen. Auch das ausführliche und vollständige Zitieren der sperrigen Titel von DDR-Dokumenten hätte man besser in die Fußnoten verbannt. Dieser Kritikpunkt wirft die Frage nach dem Zielpublikum auf. Aus den genannten Gründen wird es wohl eher der Personenkreis ehemaliger und aktiver Zeissianer sein und weniger ein weiteres, unternehmensgeschichtlich interessiertes Publikum. Für eine Positionierung im wissenschaftlichen Diskurs fehlt auch eine explizite Fragestellung oder These.
Trotz dieser Einschränkungen gebührt den beiden Autoren ein dickes Lob für ihre gelungene Darstellung. Mit dem dritten Band der Zeiss-Unternehmensgeschichte wurde ein aufwändiges und ehrgeiziges Projekt erfolgreich abgeschlossen. Zusätzlich liegt der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte eine - bisher relativ allein stehende - umfassende Gesamtanalyse eines großen Staatsbetriebes der DDR vor, die die Sicht auf die Mikroebene der DDR-Wirtschaft wesentlich mit neuem Material bereichert. Nicht zuletzt verweist das Buch auf die spannende Geschichte geteilter Unternehmen im geteilten Deutschland, von denen Zeiss nur einer der prominentesten Vertreter war.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Edith Hellmuth / Wolfgang Mühlfriedel: Zeiss 1846-1905. Vom Atelier für Mechanik zum führenden Unternehmen des optischen Gerätebaus, Köln 1996; Rolf Walter: Zeiss 1905-1945, Köln 2000.
[2] Armin Hermann: Nur der Name war geblieben. Die abenteuerliche Geschichte der Firma Carl Zeiss, Stuttgart 1989; ders.: Jena und die Jenoptik. Vom Kombinat zum Global Player, München 1998; ders.: Und trotzdem Brüder. Die deutsch-deutsche Geschichte der Firma Carl Zeiss, München 2002.
Armin Müller