Thomas Reichel: "Sozialistisch arbeiten, lernen und leben". Die Brigadebewegung in der DDR (1959-1989), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, 393 S., ISBN 978-3-412-20541-6, EUR 49,90
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Das Thema des vorliegenden Buches ist nicht neu, vielmehr kann es fast schon als klassisch für die Sozialgeschichtsschreibung der DDR bezeichnet werden. Seit Anfang der 1990er Jahre beschäftigen sich die Wissenschaft und teilweise auch die politische Öffentlichkeit mit den Arbeits- und Herrschaftsbedingungen in der DDR-Staatswirtschaft. Zentral war hier immer die Frage nach dem Verhältnis von SED-Herrschaft und sozialem Alltag in den Betrieben, letztlich die Frage nach dem politischen Herrschaftsanspruch, seinen Grenzen sowie nach den Freiräumen der Beschäftigten. Mit Thomas Reichels Dissertation zur Brigadebewegung in der DDR liegt ein weiteres Buch zu dieser Diskussion vor.
Unbestritten ist, dass Brigaden über weite Strecken der DDR eine zentrale Organisationseinheit von Arbeitern und Angestellten bildeten und damit in der arbeitszentrierten Gesellschaft und unter den Bedingungen einer politisierten Wirtschaftsordnung Leben und Arbeiten der meisten Menschen prägten. Allein die Zahlen sprechen hier für sich: Gegen Ende zählte die DDR-Statistik rund 300 000 Brigaden mit fast 5,5 Mio. Mitgliedern. Zeitlich überspannt Reichels Buch den gesamten Zeitraum der Brigadebewegung. Im Kapitel I werden die theoretischen Grundlagen des sozialistischen Wettbewerbs und des Aktivismus sowie die Vorgeschichte der Brigaden beschrieben. Kapitel II setzt sich ausführlich mit dem offiziellen Startschuss durch den FDGB-Bundesvorstand 1958/59 für eine systematische und von oben initiierte und gesteuerte Brigadebewegung auseinander. Zentral ist Kapitel III mit der Darstellung und Analyse der "Syndikalismus"-Affäre 1960/61, als die inneren Widersprüche der Brigadebewegung klar zu Tage traten. Eigenengagement und Initiative der Beschäftigten standen spätestens hier im offenen Widerspruch zu Theorie und Praxis einer zentralen Kontrolle durch den Staats- und Parteiapparat. Die daraufhin folgende Stagnation und Neuentwicklungen der 1960er Jahre sind Thema in Kapitel IV. Kapitel V beschreibt schließlich die Neuentdeckung und Weiterentwicklung der Brigaden in der Ära Honecker. Abgerundet wird der empirische Teil durch ein Kapitel über das Phänomen der Jugendbrigaden.
Inhaltlich fragt Reichel vor allem nach der Stellung der Brigaden in den Betrieben und nach deren Veränderungen im Verlauf der Jahrzehnte. Hintergrund hierzu ist der Mythos einer "quasigewerkschaftlichen Interessensvertretung", der aber schon vor Reichels Buch widerlegt wurde. Darüber hinaus analysiert der Autor die Bereiche des "sozialistischen Lernens" und "sozialistischen Lebens" als weitere Ziele des Brigadewesens. Methodisch knüpft der Autor am Eigen-Sinn-Paradigma von Alf Lüdtke an und versucht deshalb die alltäglich-soziale Praxis des Herrschaftssystems zu erfassen. Dies versucht die Studie insbesondere über die zentralen Quellenbestände der SED und des FDGB sowie die zusätzliche Analyse zweier Großbetriebe der Stahlindustrie, des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) und des Stahl- und Walzwerks Brandenburg (SWB). Ergänzend werden die Bestände des Ostbüros der SPD und der Staatssicherheit herangezogen.
Betrachtet man Reichels Ergebnisse, dann erstaunt der Nachweis wenig, dass die propagierte Bewegung "von unten" eine reine Fiktion und der Einfluss der SED und ihrer Gewerkschaft uneingeschränkt groß war. Gab es in den 1950er Jahren, also in der Phase der Transformation, noch Freiräume für die Arbeiter, so verschwanden diese spätestens in der Ära Honecker. Von widerständigem Verhalten kann deshalb in keiner Phase wirklich gesprochen werden. Die Analyse der "Syndikalismus"-Affäre 1961, in der die machtpolitische Klärung stattfand, hat Reichel selbst schon vor über zehn Jahren veröffentlicht. [1] Letztlich hatte in allen Phasen die Machtsicherung Vorrang vor der Entfaltung der Arbeiterpartizipation. Darüber hinaus betont der Autor aber die integrative Kraft der Brigadebewegung. Die Brigaden dienten nicht nur der SED als wichtiges Reservoir für neue Parteimitglieder und Kader, sondern leisteten letztlich einen Beitrag zur allgemeinen Befriedung der DDR-Bevölkerung. Zentrale These Reichels ist also der Verweis auf die permanente Sozialisationsleistung der Brigaden. Die Kollektive trugen damit vor allem in der subjektiven Sicht der Beteiligten zu höherer Leistungskraft und Arbeitszufriedenheit bei, auch wenn der objektive Nutzen für die Volkswirtschaft schwer zu fassen, im Zweifel sogar in Frage zu stellen war. Die Brigaden sicherten eine gewisse Loyalität ihrer Mitglieder zum System. Zwar entwickelten sich dort keine "Neue Menschen", wie es die frühe DDR euphorisch herbeigesehnt hatte. Die "kollektive Sozialisation" in den Brigaden - nachgeordnet auch durch andere Institutionen der DDR wie Pioniere und FDJ - passte die Menschen aber zum großen Teil in die Regeln und Grenzen der Gesellschaft ein.
Kritisch bleibt anzumerken, dass mit dem Hauptzugang über Zentralakten das Problem einhergeht, dass Prozesse vor Ort nur ungenügend beschrieben werden. Die Fallstudien bleiben schlaglichtartig und der Autor versäumt es damit, die lokalen Rahmenbedingungen näher zu beleuchten. Fragen wie die nach dem Verhältnis von Brigade zu Betrieb oder anderen lokalen Sonderregeln bleiben außen vor. Mittlerweile liegen einige mikroökonomische bzw. mikrosoziologische Studien zu DDR-Betrieben vor, denen das deutlich besser gelingt. [2] Insgesamt liegt somit eine eher konventionelle Arbeit zur Sozialgeschichte der DDR vor. Zwar werden in der Schlussanalyse Begriffe wie "kollektive Sozialisierung" stark gemacht, diese werden aber nicht genutzt, um die empirischen Erkenntnisse beispielsweise mit der neueren kulturwissenschaftlich orientierten Forschung in Bezug zu setzen und dadurch einen Blick über den Tellerrand der DDR-Forschung hinaus zu werfen. Zum Gegenstand des Buches, der Brigadebewegung der DDR, liegt aber eine solide Gesamtdarstellung vor.
Anmerkungen:
[1] Thomas Reichel: "Jugoslawische Verhältnisse"? Die "Brigaden der sozialistischen Arbeit" und die "Syndikalismus"-Affäre (1959-1962), in: Thomas Lindenberger (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln u.a. 1999, 45-73.
[2] Vgl. Christoph Vietzke: Konfrontation und Kooperation. Funktionäre und Arbeiter in Großbetrieben der DDR vor und nach dem Mauerbau. Essen 2008; Georg Wagner-Kyora: Vom "nationalen" zum "sozialistischen" Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2009.
Armin Müller