Dimitrij N. Filippovych / Matthias Uhl (Hgg.): Vor dem Abgrund. Die Streitkräfte der USA und der UdSSR sowie ihrer deutschen Bündnispartner in der Kubakrise (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), München: Oldenbourg 2005, XIV + 265 S., ISBN 978-3-486-57604-7, EUR 44,80
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Am 23. Oktober 1962 erhielten die sowjetischen Streitkräfte den Befehl, "volle Gefechtsbereitschaft" herzustellen. Annähernd zeitgleich wies Moskau seine Verbündeten im Warschauer Pakt an, ihre Armeen in "erhöhte Gefechtsbereitschaft" zu versetzen. Für die Stäbe und Truppen der "Bruderarmeen", darunter die Nationale Volksarmee der DDR (NVA), bedeutete dies, voll aufmunitioniert und in kürzester Zeit die Kasernen verlassen zu können. Auch die westliche Führungsmacht erhöhte den Alarmzustand ihres Militärs. Am 24. Oktober ging das Strategic Air Command der USA erstmalig in seiner Geschichte auf die Alarmstufe "DefCon 2". Den Hintergrund zu diesem Szenario des Schreckens bildete die Zuspitzung der Kubakrise im Herbst 1962.
Zweifellos stand damals die Zivilisation angesichts des Aufeinanderprallens der beiden Supermächte USA und UdSSR "vor dem Abgrund" - so auch der treffend gewählte Titel des vorliegenden Sammelbandes. Die Herausgeber, Dimitrij N. Filippovych, Professor an der Militäruniversität Moskau, und Matthias Uhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin, stellen dem interessierten Leser acht Beiträge ausgewiesener Historiker zur Verfügung, die als Referate auf einer Fachtagung zur Kubakrise im Oktober 2002 in Berlin gehalten wurden. Bereits der Untertitel der Publikation macht dabei deutlich, worauf sich das Forschungsinteresse der Herausgeber und Autoren besonders fokussierte: auf die Rolle des Militärs der beiden beteiligten Großmächte und deren jeweilige deutsche Bündnispartner. "Die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden lag damals nicht nur in den Händen von Chruschtschow und Kennedy sowie ihrer Geheimdienste. Die Militärs der beiden Supermächte spielten ebenfalls eine Schlüsselrolle bei der Beilegung des Konflikts" (VIII).
Dementsprechend "militärisch" zeigen sich die meisten Beiträge des Bandes. Nachdem Gerhard Wettig in knapper Form den außenpolitischen Rahmen für die Entstehung der Kubakrise abgesteckt und dabei eindringlich auf den engen Zusammenhang zwischen Berlin- und Kubakrise verwiesen hat, beschreibt der Aufsatz der russischen Autoren Dimitrij N. Filippovych und Wladimir I. Ivkin die Beteiligung der sowjetischen Strategischen Raketentruppen an der "Karibischen Krise". Trotz der eher militärwissenschaftlichen Darstellungsart ist die Lektüre außerordentlich spannend. Das liegt nicht zuletzt an den vielen Details, die Filippovych und Ivkin auf der Grundlage von erstmals freigegebenen Akten der Strategischen Raketentruppen der Russischen Förderation dem deutschen Leser offerieren.
Die beiden Autoren untersuchen speziell die Operation der Sowjets zur geheimen Verlegung und Stationierung einer Raketendivision aus der UdSSR nach Kuba, die den Deckmantel "Anadyr" trug. Sie machen deutlich, mit welchem enormen Aufwand es den sowjetischen Militärs gelang, innerhalb von drei Monaten unter strengster Geheimhaltung über 42.000 Soldaten und 230.000 Tonnen Ausrüstung über den Seeweg nach Kuba zu schaffen. Die Raketen wurden beispielsweise unter erheblichen Schwierigkeiten unter Deck in den Frachträumen verstaut. Auf dem Deck stellte man aus Gründen der Tarnung landwirtschaftliche Maschinen auf. Auch der Transport der Mannschaften, insbesondere auf Frachtschiffen, war mit erheblichen Anstrengungen für die "Passagiere" verbunden. So hatte man die Zahl der Leute, die sich an Deck aufhalten durften, begrenzt. Im Bereich der amerikanischen Luft- und Seeaufklärung wurde der Deckaufenthalt völlig verboten. Die Soldaten waren tagelang bei Temperaturen von über 50 Grad in den Zwischendecks eingepfercht. Am 4. Oktober 1962 trafen die ersten 36 von insgesamt 60 Atomsprengköpfen auf Kuba ein. Etwa zwei Wochen später war der erste mit R-12 Mittelstreckenraketen ausgestattete Truppenteil der 51. sowjetischen Raketendivision auf Kuba einsatzbereit. Am 27. Oktober 1962, auf dem Höhepunkt der Krise, standen 24 Startanlagen der Division zur Verfügung, um verheerende Atomschläge gegen ausgewählte Industrie- und Verwaltungszentren der USA zu führen. Der Befehl dazu aus Moskau blieb jedoch aus, da sich die politische Vernunft auf beiden Seiten durchgesetzt hatte. Bereits am 28. Oktober 1962 begannen die Sowjets mit der Demontage ihrer Raketenstellungen auf Kuba. Ende 1962 kehrte die Raketendivision vollständig in ihre Heimat zurück.
Filippovych und Ivkin konstatieren am Schluss ihres Beitrages, dass die Sowjetunion nicht nur militärtechnische und militärstrategische Lehren aus der Kubakrise gezogen hat. Sie habe "zugleich eine entscheidende militärpolitische Lektion gelernt: Atomkriege sind nicht führ- und gewinnbar und müssen deshalb durch Entspannungs- und Abrüstungspolitik verhindert werden" (63). Auch Michail G. Ljoschin, Oberst am russischen Institut für Militärgeschichte in Moskau, dessen Beitrag die Wandlungen strategischer Prinzipien und Einsatzmuster der sowjetischen Streitkräfte zwischen Berlin- und Kubakrise nachzeichnet, sieht darin die wichtigste Lehre der Kubakrise.
Harald Biermann wendet sich in seinem Aufsatz dem Militär der anderen am Konflikt beteiligten Supermacht zu. Er geht der Frage nach, welche Rolle die Streitkräfte der USA während der Krise gespielt haben. Biermann stellt dabei überzeugend die durchaus unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen von ziviler Führung und Vertretern des Militärs dar. Er macht aber auch deutlich, dass sie letztlich ein gemeinsames Ziel verfolgten, nämlich die Herrschaft Castros auf Kuba zu beseitigen. Im Herbst 1962 wartete das amerikanische Militär beispielsweise auf den Befehl zum Losschlagen, um die Karibikinsel vom Diktator zu befreien. Doch Präsident Kennedy schreckte vor einer offenen Aktion gegen den Inselstaat zurück, da ihm die Eskalationsgefahren zu groß schienen. Insofern spielten für ihn die US-Streitkräfte jenseits des Aufbaus einer Drohkulisse kaum eine Rolle. "Alles in allem muss aus der Rückschau festgehalten werden, dass die Art und Weise, wie US-Generalität einerseits und Chruschtschow andererseits zeitgenössisch auf den Kalten Krieg und den atomaren Rüstungswettlauf schauten, deutlich näher beieinander lagen als an den Sichtweisen Kennedys" (25).
Dass eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR in der Karibik kein "regionales Ereignis" geblieben wäre, sondern wahrscheinlich auch den Kriegsfall auf deutschem Boden bedeutet hätte, belegen eindrucksvoll die Beiträge von Bruno Thoß, Sigurd Hess und Matthias Uhl. Auch ihre Aufsätze beruhen zu einem großen Teil auf einer breiten Aktengrundlage, darunter erstmals freigegebener Bestände der Bundeswehr. Dadurch eröffnen sich dem Leser nicht nur neue und interessante Details, sondern auch wichtige Zusammenhänge. So weist Thoß in seinem komplexen Aufsatz über Auftrag und Rolle der Bundeswehr als NATO-Mitglied während der Kubakrise nach, dass die Bundeswehr unter anderem wegen fehlenden Personals, wegen Lücken und Mängeln in der Infrastruktur, Logistik und im Kernwaffenschutz sowie wegen Problemen in der Koordination von militärischer und ziviler Verteidigung nur "bedingt abwehrbereit" war. Heß unterstreicht diese Feststellung mit Blick auf die Bundesmarine.
Im Osten Deutschlands liefen dagegen die Vorbereitungen auf einen bewaffneten Konflikt auf Hochtouren, wie Uhl in seinem Beitrag überzeugend herausarbeitet. Die sowjetischen Streitkräfte in der DDR waren bereits Mitte September in "erhöhte Gefechtsbereitschaft" versetzt worden. Am 23. Oktober löste SED-Chef Ulbricht nach einer Weisung aus Moskau den Alarmzustand für die gesamte NVA aus. Fast einen Monat lang hielt die ostdeutsche Armee die befohlenen Maßnahmen aufrecht, erst nach einer erneuten Weisung aus Moskau kehrte man in der NVA wieder zum normalen Dienstalltag zurück.
Nach dieser spezifischen "deutsch-deutschen" Sicht schließt Hermann-J. Rupieper mit einigen zusammenfassenden Überlegungen zur sowjetisch-amerikanischen Konfrontation vom Anfang der Sechzigerjahre bis zum Ende der Achtzigerjahre die überaus informative Publikation ab.
Der zweite Teil des Buches - der Dokumentenanhang - ist nicht minder anregend und stellt sich als eine vortreffliche Ergänzung der Beiträge dar. Der größte Teil der hier abgedruckten 27 Fundstücke amerikanischer, sowjetischer sowie west- und ostdeutscher Provenienz wird erstmalig der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht.
Alles in allem haben Filippovych und Uhl mit ihrem Band zur Kubakrise einen gelungenen Beitrag zur weiteren Erforschung eines der wichtigsten Höhe- und Wendepunkte des Kalten Krieges geleistet.
Rüdiger Wenzke