Norman Davies: Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944. Aus dem Englischen von Thomas Bertram, München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 2004, 816 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-426-27243-5, EUR 24,90
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Norman Davies ist das gar nicht so seltene Beispiel eines Historikers, der sich in das Objekt seiner Studien verliebt hat. Seine offen gezeigte romantische Zuneigung für Polen hat ihm dort die breiteste Leserschaft eingebracht; jedes seiner Werke zur Geschichte des Landes seit Beginn der 1980er-Jahre ist ins Polnische übersetzt und in großen Auflagen verkauft worden. Pünktlich zum 60. Jahrestag hat Davies nun dem Warschauer Aufstand eine monumentale Studie gewidmet, die auch auf Deutsch vorliegt. Wie die vorangegangenen Werke weist sie drei typische Eigenschaften auf: eine ungewöhnliche Gliederung, einen klaren Standpunkt und einen lebendigen, durchaus unakademischen Stil.
Das Kernstück des Buches - die Schilderung des Aufstandes der polnischen Untergrundarmee gegen die deutsche Besatzungsmacht vom 1. August bis zum 2. Oktober 1944 - bettet Davies in eine wesentlich umfangreichere Darstellung von Vor- und Nachgeschichte sowie von politischer und historiografischer Bewertung der Erhebung ein. Durch diese breit angelegte Kontextualisierung erscheint der Warschauer Aufstand als ein Dreh- und Angelpunkt der polnischen und darüber hinaus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Davies Ausführungen laufen darauf hinaus, dass im Verlauf des Aufstandes die entscheidenden Weichenstellungen hin zur Ost-West-Teilung des Kontinents und zum Kalten Krieg vollzogen wurden. Die Niederlage der Aufständischen war nach seiner Ansicht im wesentlichen bedingt durch das Scheitern des Systems der Anti-Hitler-Koalition zwischen Großbritannien, den USA und der Sowjetunion.
Damit revidiert Davies sein eigenes Urteil über den Aufstand. In seiner Geschichte Polens von 1981 hatte es noch geheißen: "There can be little doubt that the decision to launch the Warsaw Rising represents for the Poles the most tragic mistake in their recent history. [...] Its timing, and its underlying tactical considerations, were woefully misguided. Its political goals were fundamentally unrealistic." [1] Dagegen sucht Davies heute die Schuld für die Niederlage weniger bei den polnischen Urhebern des Aufstandes, sondern vor allem bei ihren westlichen Verbündeten. Im Spiel der "Großen Drei" hätten Briten und Amerikaner die Polen geopfert, um das Verhältnis zur Sowjetunion nicht zu beschädigen.
Allerdings muss Davies einräumen, dass sein Urteil letztlich nicht mehr als ein "Zwischenbericht" (676) sein kann - was ihn nicht daran hindert, es mit Verve vorzutragen. Sowohl in den britischen wie auch in den ehemals sowjetischen Archiven ist ein Großteil der Akten über die Hintergründe der politischen und militärischen Entscheidungen von 1944 weiterhin unzugänglich.
Sicherlich ist Davies zuzubilligen, dass er mit seiner Sichtweise die allzu sehr auf das Geschehen in Warschau selbst verengte Perspektive der polnischen Historiografie erweitert hat. Dennoch entgeht seine Darstellung von deutscher Besatzungsherrschaft, polnischem Untergrund und dem Aufstand nicht der Gefahr, zu einem doch eher traditionellem schwarz-weißen Heldengemälde zu geraten. Davies Ausführungen sind stark geprägt durch Erinnerungen von Veteranen, aus denen er immer wieder zitiert. Das macht seine Darstellung sehr anschaulich, ist aber wohl auch dafür verantwortlich, dass er auf dort nur selten erwähnte Problemfelder kaum eingeht.
Dies betrifft besonders jene Aspekte, auf die sich in der polnischen Historiografie und Publizistik seit Ende der Diskussionsverbote durch den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes die Aufmerksamkeit konzentriert: das ambivalente Verhältnis der Warschauer Zivilbevölkerung zum Aufstand (die weitaus meisten der mehr als 200.000 Opfer, die bei der brutalen Vernichtung Warschaus durch die deutsche Besatzungsmacht im Sommer 1944 ums Leben kamen, waren Zivilisten) und die bislang unzureichend untersuchte Rolle von rechts- wie linksextremen Partisanen (die radikalen Gruppierungen waren nicht immer bereit, sich der den Aufstand führenden Heimatarmee [Armia Krajowa] und damit der Londoner Exilregierung unterzuordnen).
Davies romantisch-patriotische Sicht auf den Warschauer Aufstand lässt für Nuancen wenig Raum. Seine vehemente Parteinahme für den Aufstand erscheint angesichts der hohen Zahl der Opfer und des völligen Scheiterns seiner politisch-militärischen Ziele fragwürdig. Konnten die Verantwortlichen für den Aufstand wirklich nicht ahnen, dass die deutsche Besatzungsmacht noch stark genug war, rücksichtslos zuzuschlagen, dass die Sowjetunion kein Interesse daran hatte, ihren politischen Gegnern in Polen zur Hilfe zu eilen, und dass Roosevelt und Churchill nicht bereit waren, wegen Warschau ihr Bündnis mit Stalin aufs Spiel zu setzen? Schließlich hatten eben diese Erwägungen schon im Vorfeld dazu geführt, dass die Aufstandspläne bei vielen der führenden Köpfe im polnischen Untergrund wie auch im Exil auf Ablehnung stießen.
Mit seinem breit angelegten Werk hat Norman Davies nicht nur eine gut lesbare Darstellung des Warschauer Aufstandes vorgelegt, sondern er bietet - anhand von mit diesem Geschehen verbundenen Entwicklungen - darüber hinaus eine Einführung in ein tragisches Kapitel polnischer Geschichte von 1939 bis 1989 und behandelt auch dessen Verarbeitung bis zur Jahrtausendwende. Die Urteile, zu denen er dabei gelangt, sind jedoch wenig differenziert und ausgewogen, vielmehr bezieht der Autor einen einseitigen Standpunkt. Der Wert dieses ganz gewiss nicht "sine ira et studio" geschriebenen Werkes für die Geschichtswissenschaft ist deshalb eher gering anzusetzen.
Anmerkung:
[1] Norman Davies: God's Playground. A History of Poland. Vol. II, Oxford 1981, 474-475.
Lars Jockheck