Norman Davies: Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München: C.H.Beck 2000, XVIII + 505 S., 30 Abb. auf Tafeln, 12 Kart., 4 Diagr., ISBN 978-3-406-46709-7, EUR 24,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Norman Davies / Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau - Wroclaw - Vratislavia: Die Geschichte einer mittel-europäischen Stadt, München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 2002
Norman Davies: Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944. Aus dem Englischen von Thomas Bertram, München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 2004
Die "kurz gefaßte Geschichte Polens" - so der Untertitel des Originals - von Norman Davies gilt seit ihrem Erscheinen 1984 in der englischsprachigen Welt als eine Art Klassiker. Es ist die im wesentlichen auf die Zeit seit der dritten Teilung Polens (1795) beschränkte Zusammenfassung von Davies' 1981 erschienener zweibändiger Geschichte Polens "God's Playground". Der Zeit vor 1795 sind nur knapp 70 Seiten gewidmet. Davies' Werk weist einen originellen Aufbau auf. Es beginnt mit der Gegenwart und arbeitet sich Schicht um Schicht zur Vergangenheit vor. Dabei werden in jeder Epoche Kontinuitätslinien, aber auch neue Entwicklungen herausgearbeitet. Über alle Jahrhunderte hinweg, unabhängig von teilweise dramatischen politischen Veränderungen, liegt Polen an einer der sensibelsten Schnittstellen von Einflusszonen des Kontinents, im "Herzen Europas".
Das Werk zeichnet sich durch eine Vielzahl von Stärken aus. Es umfasst nicht nur Polens politische Geschichte, sondern räumt der Kultur-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte einen breiten Raum ein. Es vermag so zum Beispiel nachzuzeichnen, wie die polnische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts trotz der politischen Teilung unter drei Mächte als Einheit überleben konnte. Das, was das Innerste der Gesellschaft bewegte, auch die widersprüchlichen Entwicklungslinien von "Romantikern" und "Positivisten", wird überzeugend vorgestellt. Und bis in die Zeit der Volksrepublik hinein gelingt es dem Verfasser, Kontinuitäten aufzuzeigen, die einer rein politikgeschichtlich orientierten Darstellung verschlossen blieben, etwa wenn er in der Zeit der Volksrepublik eine "kommunistische Spielart von 'Organischer Arbeit'" ausmacht und die Emigrationswellen nach 1939 und in der Volksrepublik mit denen des 19. Jahrhunderts in Bezug setzt.
Davies' Bemühen zielt sichtbar auf eine lesbar geschriebene Geschichte Polens mit prägnanten Konturen. Entsprechend zeichnet er klare Linien, überzeichnet ab und zu aber auch. Er beklagt in der geläufigen Historiographie zu starke Differenzierungen mit den Worten: "Die Fachleute lieben ihre Grautöne so sehr, dass sie bisweilen sogar leugnen, dass es Schwarz und Weiß gibt" (402). Dem ist indessen entgegenzuhalten, dass er selbst mitunter nur die Farben schwarz und weiß zu kennen scheint und entsprechend holzschnittartig arbeitet, insbesondere was die Zeit nach 1945 betrifft. Das Buch wurde 1983 abgeschlossen. Entsprechend Davies' von der Gegenwart zur Vergangenheit zurückschreitender Vorgehensweise ist die Sicht der polnischen Geschichte auf die Zeit des Kriegszustands ausgerichtet. Diese Perspektive wirkt aus heutiger Sicht zeitlich leicht verfehlt, wenn sie die aktuellen Entwicklungen erklären soll.
Das laut Impressum eigens für die deutsche Ausgabe geschriebene Schlusskapitel "Befreiung: 1983-1999" (418-445) kann diese Sichtweise kaum zurechtrücken. Zudem geht der Autor gerade in diesem Kapitel etliche Male sehr salopp mit Details um. So verfehlte die "Solidarität" bei den Wahlen von 1989 alle ihr zugänglichen Mandate nicht im Sejm, sondern im Senat (429), und die Zahl der Kandidaten auf der Landesliste zum Sejm betrug nicht 50, sondern 35 (ebenda). Nach den Präsidentschaftswahlen von 1990 trat der unterlegene Ministerpräsident Mazowiecki gegen den öffentlich geäußerten Willen des siegreichen Kandidaten Lech Walesa von seinem Amt zurück. Nach Davies "feierte (Walesa) seinen Sieg, indem er die Regierung umgehend entließ" (434). Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Gleichwohl ist Davies' "Geschichte Polens" ein lesenswertes Buch, das den deutschsprachigen Leser Entwicklungslinien der polnischen Geschichte nachvollziehen lässt, die ihm in dieser Prägnanz bisher nicht geboten wurden. Dies gilt insbesondere für diejenigen Entwicklungen, die jenseits der politikgeschichtlichen Ereignisse die Kontinuität der Geschichte der Polen sichtbar machen.
Klaus Ziemer