Andreas Frewer: Bibliotheca Sudhoffiana. Medizin- und Wissenschaftsgeschichte in der Gelehrtenbibliothek von Karl Sudhoff (= Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte; Beiheft 52), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 406 S., ISBN 978-3-515-07883-2, EUR 68,00
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Die Buchbestände einer ärztlichen Privatbibliothek mit einem Umfang von 4.000, in vielen Fällen seltenen und kostbaren Werken vorzustellen und sich damit wissenschaftshistorisch auseinanderzusetzen, ist sicherlich ein legitimes Anliegen, das in Bezug auf die Periode vom 16. bis zum 18. Jahrhundert über eine längere, fruchtbare Tradition der Aufarbeitung verweisen kann. Die Privatbibliothek, deren Bestände von Andreas Frewer mit nicht ganz unerheblicher personeller und finanzieller Unterstützung durch die Bayerische Staatsbibliothek München ediert wurden, befand sich im Besitz des Arztes und Medizinhistorikers Karl Sudhoff (1853-1938), der das weltweit erste, an der Leipziger Universität beheimatete medizinhistorische Institut leitete und an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einem Gelehrtenideal anhing, das schon von einigen Zeitgenossen eher zu den Auslaufmodellen gerechnet wurde. Sammelgebiete dieser Bibliophilie waren in erster Linie Medizin und Medizingeschichte, das Kernstück bildete das Werk von Paracelsus. Weiterhin stark vertreten sind medizinhistorische Quellen am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit.
Frewer spricht in seiner knappen Einleitung zu Recht von einer auf Medizin- und Wissenschaftsgeschichte konzentrierten Gelehrten- und Fachbibliothek (21), und man fragt sich, warum er nicht bei diesem sachgerechten Urteil bleiben will und stattdessen die private Bibliothek Sudhoffs "universalhistorisch" (13, passim) werden lässt und ihren Besitzer zu einem "Polyhistor" (16, passim) machen möchte. Nach einer ersten - zugegebenermaßen schnellen - Durchsicht des Katalogs - um dem Hinweis des Universalhistorischen nachzugehen - ließ sich beispielsweise nur ein Historiker in Sudhoffs Büchersammlung finden: Arthur Moeller van den Bruck, einer "der drei wichtigen Propheten der Deutschnationalen" (Nicholas Goodrick-Clarke). Keine Spur von Leopold von Ranke, Karl Lamprecht oder Jacob Burckhardt. Und was die Bezeichnung "Polyhistor" angeht, so war sie beispielsweise ein Epitheton ornans, das man zwar noch in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts im Nekrolog auf einen anderen Medizinhistoriker, Kurt Sprengel in Halle, finden konnte, aus dessen mehrbändiger Medizingeschichte unter anderem Heinrich Heine seine Informationen zur mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte bezog. Aber schon damals war sein Gebrauch ambivalent und eher Ausdruck einer konservativen, altmodischen Wissenschaftsvorstellung. Die Frage stellt sich, warum man nun gerade Sudhoff zu einem Polyhistor machen und seine Bibliothek universalhistorisch nennen muss, warum man weitere Bezeichnungen für seine Person und sein Werk finden zu müssen glaubt, die eher in den Bereich von Festschriften und Laudationes gehören als in eine sachliche Einführung in die Edition des Katalogs seiner privaten Bibliothek: "Nestor der medizinhistorischen Forschung", "Patriarch der deutschen Medizinhistoriographie". Zum Patriarchen hat er sich selbst gemacht und zu großen Teilen auch machen lassen; an Selbstüberhebung hat es dem Mann nicht gefehlt. Man schaue sich nur seine autobiografischen Aufzeichnungen "Aus meiner Arbeit" an, die er in dem von ihm begründeten und später nach ihm benannten Archiv für Geschichte der Medizin 1929 abdrucken ließ. Dazu gibt es längst eine kritische Forschung (Gundolf Keil, Georg Harig, Thomas Rütten), die auch von Frewer zitiert wird, allerdings ohne dass man beispielsweise einer Erklärung und Begründung habhaftig werden kann, warum es gerechtfertigt sein soll, diese Einschätzungen und Positionen wieder aufzugeben. Thomas Rütten setzt das Wort "Patriarch" in Anführungsstriche, er hat dafür gute Gründe. Andreas Frewer zitiert Rütten - und lässt die Anführungsstriche weg.
Der Rezensent möchte nicht den Eindruck erwecken, er gönne Karl Sudhoff die ihm von Andreas Frewer gemachten Zuschreibungen eines Polyhistors und eines Besitzers einer universalhistorischen Bibliothek nicht. Um diesen Punkt geht es nicht. Diese Zuschreibungen messen nur der hoch differenzierten, disziplinären Situation der Wissenschaft um 1900 und dem sehr speziellen Begründungsmilieu für die Medizingeschichte als akademischem Fach an den medizinischen Fakultäten zu wenig Bedeutung bei und stellen Intentionen und Ideale einer Einzelpersönlichkeit zu stark in den Vordergrund. Denn von Nestoren des Faches zu reden, ohne Max Neuburger, Julius Leopold Pagel und Theodor Puschmann zu nennen, scheint einerseits eine unzulässige Verkürzung zu sein. Andererseits sind das "Universalhistorische" und das "Polyhistorische" nicht nur Legat der Gründungsphase des Faches, sondern haben sich zu einer unausrottbaren Wurzel von Vorbehalten dem Fach gegenüber bis zum heutigen Tag ausgewachsen.
Schließlich erfährt man in der Einleitung, dass die Bibliothek von Karl Sudhoff heute besonders deshalb so fast lückenlos in der Bayerischen Staatsbibliothek der Forschung zur Verfügung gestellt werden kann, weil sich Reichsärzteführer Gerhard Wagner mit nicht unerheblichem finanziellen Engagement um deren Ankauf gekümmert hat. Die Metapher, die dann für die "Verarmung" der medizinhistorischen Forschung in Deutschland nach 1933 (24f.) - vielleicht ist es angemessener von deutschsprachiger Medizingeschichtsschreibung zu sprechen - notiert wird, löst Verwunderung aus. Der Rezensent hält die Tatsache des Exodus der jüdischen Kollegen seit Anfang der 30er-Jahre, die dort angesprochen wird, für nicht vergleichbar mit dem Umstand, dass Sudhoffs Büchersammlung bis Kriegsende nicht zur Verfügung stand, da sie "zur Sicherheit" in Kisten verpackt worden war, was hier ebenfalls Erwähnung findet. Diese Dinge sind nicht bloß nicht vergleichbar, sie liegen auch auf recht unterschiedlichen Ebenen und lassen sich deshalb nicht in einer "Metapher", so der Autor, zusammenbinden, die im Stande wäre, die thematische und methodische Richtungsänderung in der deutschsprachigen Medizingeschichtsschreibung seit den 30er-Jahren zu beschreiben. Um diesen Wandel zu begreifen, sind sicherlich andere Quellen heranzuziehen. Aber wenn wir schon bei Bibliotheken sind: Ein Blick in die privaten Bibliotheken der in Deutschland verbliebenen Diepgens, Heischkels, Artelts, Lejeunes, Gottliebs, von Brunns und Bergs wäre sicherlich hilfreich, auch wenn man davon ausgehen muss, dass eine rekonstruktive Arbeit mit erheblichen Widerständen würde fertig werden müssen und damit der Ertrag fraglich ist. Und schließlich wird ein historiografiegeschichtliches Interesse, dem es um die Entwicklung der deutschsprachigen Medizingeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert zu tun ist, nicht an der Frage vorbeikommen, wo sich die Privatbibliotheken der Sigerists, Temkins, Pagels, Edelsteins, Neuburgers, Kraus', Fischers und Hirschfelds unter vielen anderen finden. Sie wohlverpackt in Kisten zu finden, davon wird man angesichts der Lebenswege ihrer Besitzer nicht ausgehen dürfen.
Frewer kündigt weitere Einzelstudien zu den "medizinhistorischen Strukturen und der Ästhetik" der Bibliothek von Karl Sudhoff an (9), der gern ein "Goethe of his profession" gewesen wäre. Nun ja, ein Anfang ist jedenfalls gemacht.
Hans-Uwe Lammel