Stephan Schwenke: Die gezähmte Bellona? Bürger und Soldaten in den hessischen Festungs- und Garnisonsstädten Marburg und Ziegenhain im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg: Tectum 2004, 279 S., ISBN 978-3-8288-8705-3, EUR 29,90
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In der neueren Militärgeschichte hat das schwierige Verhältnis des Militärs zur Bevölkerung schon seit längerer Zeit einige Aufmerksamkeit erregt. Nun lässt sich diese Thematik in vielen historischen Epochen wieder finden. Von besonderem Interesse ist aber die Phase des Ancien Régime, als es zur Aufstellung stehender Heere kam. Denn anders als in früheren Zeiten waren die Soldaten von nun an auch in Friedenszeiten dauerhaft präsent. Wie sich das Militär mit Bürgern und Bauern im vormodernen Alltag arrangierte, thematisiert die Marburger Dissertation am Beispiel der Landgrafschaft Hessen-Kassel im späten 17. und 18. Jahrhundert. Damit steht ein Reichsstand im Mittelpunkt des Interesses, der in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden ein in Relation zu den bescheidenen territorialen Rahmenbedingungen beachtliches militärisches Potenzial aufbaute und dadurch im 18. Jahrhundert zu einer respektablen Militärmacht aufstieg.
Doch nicht der gesamte hessische Militärapparat wird hier untersucht. Vielmehr werden mit Marburg und Ziegenhain exemplarisch die wichtigen Festungen des Landes herangezogen. Nach einleitenden Ausführungen zur frühneuzeitlichen Militärgeschichte (die Stichworte der oranischen Reformen und des Landesdefensionswerks spielen hier eine Rolle) und zur territorialen Entwicklung Hessen-Kassels informiert der Autor kurz über den Aufbau des stehenden Heeres unter Landgraf Karl ab 1670. Es folgen (vornehmlich baugeschichtliche) Abschnitte zu den Festungen Ziegenhain und Marburg, sodann Ausführungen zu den Diensten, die die hessischen Untertanen für das Militär zu leisten hatten. Unter der Überschrift "Der Soldat und sein Umfeld" werden Anwerbung, Militärstrafrecht und das Spektrum der soldatischen Devianz behandelt. Abschließend wird das Militär als Impulsgeber für die Wirtschaft betrachtet.
Die Arbeit ist nur auf den ersten Blick schlüssig konzipiert, denn schon nach kurzer Lektüre werden wesentliche Probleme offenbar. Ein grundlegendes Manko ist das überhaupt nicht erkennbare Erkenntnisinteresse. Der den Titel prägende Begriff der gezähmten Bellona wird in der Studie selbst überhaupt nicht interpretatorisch aufgegriffen, ja sogar in seiner prinzipiellen Bedeutung offenkundig gar nicht erkannt. Dass es sich hierbei um ein Schlagwort des 18. Jahrhunderts handelt, das den Krieg in einer eingehegten, kontrollierbaren und damit in einer dem aufgeklärten Zeitalter angemessenen Form vorstellt, wird jedenfalls nirgends angesprochen. Dabei hätte sich durchaus die Frage ableiten lassen, ob Hessen-Kassel in der Zeit des Ancien Régime ein Beispiel dafür gewesen ist, das stehende Heer mit Blick auf das Verhältnis zur Bevölkerung organisatorisch so in den Griff zu bekommen, dass man dem zeitgenössischen Postulat einer gezähmten Bellona hat nahe kommen können.
So aber bleiben viele Befunde, die, aus den Beständen des hessischen Staatsarchivs Marburg gewonnen, für sich genommen durchaus interessant sind, in ihrer historischen Aussagefähigkeit vage und undeutlich. Dies liegt auch an der durchweg zu konstatierenden mangelhaften Rezeption aktueller und überhaupt einschlägiger Literatur. Arbeiten aus dem Umfeld der hessischen Landesgeschichte sind, soweit dem Rezensenten bekannt, noch gut rezipiert. Erstaunt registriert man aber, dass zum Thema der Landsknechte mit Friedrich Blau lediglich ein Autor aus dem 19. Jahrhundert angeführt wird, nicht aber die maßgeblichen Forschungen von Reinhard Baumann. Gleiches gilt für Lazarus von Schwendi, zu dem jetzt die aktuelle Studie von Thomas Nicklas heranzuziehen ist (vgl. 22). Und das klischeehaft negative Bild des Soldaten ist von der Forschung keineswegs unbeachtet geblieben (vgl. hier 184), wie die Arbeiten von Peter Burschel zeigen.
Nun kann man dies vielleicht noch verschmerzen, da diese Lücken nicht wirklich das Kernthema betreffen. Aber wer sich zum Thema der Desertion im 18. Jahrhundert äußert, muss sich mit der umfassenden Studie von Michael Sikora auseinander setzen (und nicht nur einen seiner Aufsätze zitieren; ein weiterer, in Anmerkung 828 genannter Aufsatz taucht dann nicht im Literaturverzeichnis auf). Völlig unverständlich ist, warum als Vergleichspunkt für das Verhältnis zwischen Soldaten und Stadtbevölkerung nur die Arbeit von Ralf Pröve zu Göttingen, nicht aber auch die Studie von Stefan Kroll zu "Stadtgesellschaft und Krieg" anhand der Beispiele Stade und Stralsund herangezogen wurde: Thematisch ist sie ebenfalls absolut einschlägig und hätte die Basis für weitere Vergleiche und damit eine historische Einordnung verbreitert. Überhaupt hätte die mittlerweile in nicht geringem Maße vorliegende neuere militärhistorische Literatur geholfen, verschiedene Aspekte auf eine solidere Grundlage zu stellen, etwa auch das Thema der Anwerbung und Rekrutierung.
Dies mag zumindest teilweise erklären, warum manche Befunde in dieser Arbeit letztlich rätselhaft bleiben. So finden sich keine Bemerkungen dazu, dass garnisonierte Soldaten oft auch ein (früher erlerntes) Handwerk ausübten und damit massiv in das zünftisch organisierte Wirtschaftsleben der Garnisons- und Festungsstädte eingriffen, mithin eine Belastung für das Verhältnis zur Bevölkerung darstellten. Inwieweit sich hier die Befunde, die etwa andere Arbeiten für ihre Untersuchungsfelder gewonnen haben, bestätigen und / oder differenzieren lassen, bleibt offen. Überhaupt ist irritierend, dass das Militär in wirtschaftlicher Hinsicht vor allem positiv gesehen wird und negative Aspekte praktisch keine Rolle spielen (siehe Kap. 11, 223 ff.).
Wie immer sich diese Probleme lösen lassen, wird man für diese Arbeit festhalten müssen, dass sie weder die Frage nach dem Verhältnis von (garnisonierten) Soldaten zur Bevölkerung befriedigend klärt noch eine wirklich fundierte Studie zum hessen-kasselischen Militärstaat bietet. Gerade das letztere Thema muss nach wie vor als offen gelten.
Michael Kaiser