Bettina Günther: Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. bis 17. Jahrhundert (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 289), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 221 S., ISBN 978-3-631-52330-8, EUR 39,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bettina Günther setzt sich in ihrer hier zu besprechenden Dissertation das Ziel, anhand zweier reichsstädtischer Beispiele den obrigkeitlichen Normierungsprozess der Sittlichkeit im Spannungsfeld von Norm und Praxis zu untersuchen. Die Autorin liefert damit einen Beitrag zu einer breiten Diskussion. Um Aufschluss über die Motive der Ordnungstätigkeit zu erlangen, stützt sich die Arbeit auf Policeyordnungen und Ratsprotokolle. Für die Frage nach der Durchsetzung von Policeyordnungen werden die Straf- und Urteilsbücher beider Städte sowie Prozessakten herangezogen.
Einleitend stellt Günther Strukturen und Machtkonstellationen in beiden Städten dar, um Entstehung und Wirksamkeit der Policeyordnungen zu kontextualisieren. Sie fokussiert dabei auf die durch die patrizischen Ratsherren gebildeten oligarchischen Stadtregimente. Mögliche Wechselwirkungen zwischen innerstädtischen Konfliktlinien und der Implementierung von neuen Ordnungen bleiben allerdings weitgehend ausgeblendet. So hätten etwa die strengen Sitten- und Ehevorschriften der Frankfurter Zünfte und die damit verbundene zünftische Gerichtsbarkeit eine größere Aufmerksamkeit verdient (39).
Der Hauptteil der Studie gliedert sich in zwei Kapitel. Zunächst wird der theoretische Entwurf des Sittenlebens anhand der Policeyordnungen betrachtet. In einem ersten Schritt werden die Deliktfelder vorgestellt und kursorisch mögliche Tathintergründe aufgezeigt. Deutlich wird ein breites Spektrum von Delikten, das von Verstößen gegen die Kleidervorschriften über das Verbot von Winkelehen bis hin zu Ehebruch und Kindstötung reicht. Daran anschließend geht die Autorin in einem zweiten Schritt zeitlich übergreifend auf Begründungen, Motive und knapp auf Anlässe und Ursachen für die Entstehung von Policeyordnungen ein. Insgesamt gibt Günther einen Überblick über die Vielfalt der Einflussfaktoren. Hinsichtlich der vorgestellten Anlässe und Ursachen für den Erlass von Ordnungen ist der Verweis auf Angst vor dem Zorn Gottes, die Ohnmacht gegenüber Seuchen sowie Naturkatastrophen und Krieg allerdings zu kurz gegriffen. Die Argumentation folgt hier zu eng der Rhetorik der Ordnungen selbst, deren konkreter Entstehungshintergrund leider im Dunkeln bleibt.
Der zweite Hauptteil ist schließlich der Umsetzung der Bestimmungen zu Unzuchtsdelikten gewidmet. Allerdings beschränkt Günther ihre Zielsetzung. Sie möchte nun lediglich die rechtliche Durchsetzungsfähigkeit obrigkeitlicher Normvorgaben hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Chance auf Anwendung beleuchten (137). Hierfür betrachtet sie Verfahrensarten, Urteilsgrundlagen und schließlich die Anwendungspraxis. Diese drei Aspekte werden jeweils sowohl für die schöffengerichtlichen Prozesse (unterteilt in peinliches Halsgericht und Ehegericht) als auch für das niedergerichtliche, autonom-städtische Verfahren untersucht. Darüber hinaus wird die ursprünglich bischöfliche Spruchkompetenz vorgestellt, die vor allem für ehegerichtliche Entscheidung wesentlich war. Für das Ehegericht kann Günther herausarbeiten, dass sich Prozessformen und auch rechtliche Entscheidungen im Nachklang der Reformation erst entwickeln mussten und die Rechtspraxis im Einzelfall "de facto ein neuartiges protestantisches Ehe- bzw. Ehescheidungsrecht" hervorbrachte (162). Auf die Darstellung der verschiedenen Verfahrensabläufe und prozessualer Unterschiede - etwa im Bereich der Verteidigung oder der Beweismittel - verzichtet Günther indes.
Für die Bestimmung der Urteilsgrundlagen des schöffengerichtlichen Prozesses zieht die Autorin etwas unvermittelt die Carolina hinzu. In diesem Zusammenhang verwundert es, dass sie zuvor ausdrücklich auf eine umfassende Einbeziehung strafrechtlicher Normen verzichtet (20) und auch die Wechselwirkungen zwischen Policey und Strafrecht ohne nähere Erläuterung lässt. Für die Entscheidungen im autonom-städtischen Verfahren macht die Autorin im Gegensatz zum schöffengerichtlichen Prozess deutlich, dass Urteile nicht nach gesetztem Recht gefunden wurden. Sowohl die Festlegung eines als strafwürdig empfundenen Verhaltens als auch die Sanktionierung selbst unterlagen grundsätzlich den verfahrensleitenden Ratsherren. Damit ergaben sich sowohl strafverschärfende als auch strafmildernde Spielräume für den Einzelfall (165).
Die Betrachtung der Anwendungspraxis fällt schließlich mit nicht ganz zehn Seiten etwas schmal aus. Überraschend ist zudem, dass die Autorin auf eine systematische und deliktspezifische Einbeziehung der konkreten Rechtssprechungen verzichtet. Dennoch kommt sie zu dem Ergebnis, dass für den Prozess vor den Schöffen ausschließlich gesetztes (Straf-)Recht zur Anwendung kam, Policeygesetze eher "deklamatorischen Charakter" besaßen und für die Spruchpraxis nicht verbindlich waren (167). Für das niedergerichtliche Verfahren wird die Bedeutung "willkürrechtlicher Entscheidungsfindung" stark gemacht. Ob allerdings - wie die Autorin in diesem Zusammenhang betont - wirklich unklar bleibt, welches Vergehen als strafwürdig angesehen wurde, ist als pauschale Aussage zu bezweifeln (170).
Zusammenfassend verweist Günther darauf, dass "die untersuchten Policeyordnungen keine unmittelbare rechtliche Anwendung in der Urteilspraxis" fanden und damit "keine normative, materiell-rechtliche Grundlage zur Beurteilung eines Sach- und Streitgegenstandes" waren (171). Verblüffen dürfte die Feststellung, dass Policeyordnungen weder rechtliche Bindungswirkung entfaltet haben sollen noch "ordnungsgemäßes" Verhalten Rechtssicherheit mit sich brachte (ebenda). Letzteres führt die Autorin auf den Umstand zurück, dass Policeyordnungen jederzeit änderbar waren. Angesichts der breiten Forschung zur Policey, in der zwar der deutliche Norm-Praxis-Unterschied kontrovers diskutiert wird, aber immerhin der normative Charakter von Policeyordnungen und ihre zumindest partielle Anwendung in der alltäglichen Rechtspraxis bisher nicht infrage gestellt wurden, hätte eine eingehendere Begründung dieser Aussage gut getan. Zudem räumt Günther selbst ein, dass Policeygesetze "als eigenständige Größe neben das Recht" traten und ihnen so immerhin eine mittelbare Wirkung auf die nach gesetztem Recht oder Willkürrecht getroffenen Entscheidungen zuzugestehen sei. Für das 16. Jahrhundert konstatiert sie sogar eine "Auffüllung des Rechts" durch Policeyordnungen, wo etwa die Carolina Lücken ließ oder ehegerichtliche Entscheidungen "einer aussagekräftigen Beweisvermutung" bedurften (172).
Erst für das 18. Jahrhundert sollten nach Meinung der Autorin Policeyordnungen eine Gleichstellung gegenüber dem "richtigen Recht" (sic!) finden (ebenda). Ihre Chronologisierung sieht Günther vor allem durch die Arbeiten von Wilhelm Ebel und Hans Maier gestützt, die ebenso eine progressive Entwicklung des Policeyordnungsbegriffs - hin zu einer parallel neben das gesetzte Recht tretenden Normgrundlage - konstatierten (180). Auch wenn die grundlegende Bedeutung beider Autoren nicht zu bezweifeln ist, hätte eine Einbeziehung der neueren Forschung zur Bedeutung von Policeyordnungen für den Rechtsalltag zu einer klareren Begrifflichkeit und auch Anschlussfähigkeit geführt.
Insgesamt erscheint der Versuch, ein umfassendes Bild der normierenden Eingriffe im Bereich der Sittlichkeit zu geben, nur partiell gelungen. Die fehlende Rezeption von Ergebnissen der jüngeren Implementationsforschung durch Günther führt zudem zu einer recht undifferenzierten Gegenüberstellung von Norm und Praxis. Grundlegend ist zu fragen, ob eine isolierte Betrachtung der Policeyordnungen gerade für den Bereich der peinlich sanktionierten Sittlichkeitsdelikte sinnvoll ist. Der Zusammenhang zwischen Norm und Praxis ist in der vorliegenden Arbeit weitgehend beschränkt auf die Analyse von Normen und die Betrachtung von gerichtlichen Zuständigkeiten und Verfahrensarten. Der Handlungsspielraum der von einer Sanktionierung Betroffenen bleibt im Dunkeln zurück.
Ulrike Ludwig