Rezension über:

Václav Průcha a kolektiv: Hospodářské a sociální dějiny Československa 1918-1992. I. díl: Období 1918-1945. [Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Tschechoslowakei 1918-1992. Teil 1: 1918-1945], Brno: Nakladatelství Doplněk 2004, 578 S., ISBN 978-80-7239-147-9
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Rezension von:
Peter Heumos
Moosburg
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Peter Heumos: Rezension von: Václav Průcha a kolektiv: Hospodářské a sociální dějiny Československa 1918-1992. I. díl: Období 1918-1945. [Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Tschechoslowakei 1918-1992. Teil 1: 1918-1945], Brno: Nakladatelství Doplněk 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/8485.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Václav Průcha a kolektiv: Hospodářské a sociální dějiny Československa 1918-1992. I. díl: Období 1918-1945

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Anders als die politische Geschichtsschreibung konnte sich die wirtschaftsgeschichtliche Forschung während der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei insgesamt ein solides Niveau bewahren. Dass sie davon heute profitiert, zeigt der vorliegende Band, herausgegeben von einem Autorenkollektiv, das von dem derzeit renommiertesten Wirtschaftshistoriker der Tschechischen Republik, Václav Průcha, geleitet wurde und dem - genannt seien hier nur Alice Teichová, Lenka Kalinová, Jozef Faltus und Eduard Kubů - herausragende Vertreterinnen und Vertreter der Forschung zur wirtschaftlichen (und sozialen) Entwicklung der Tschechoslowakei angehörten. Angesichts der positiven Kontinuitätsstränge mussten sich die Autoren des Bandes nicht dem Ritual der Distanzierung von den Forschungsergebnissen ihrer marxistisch orientierten Vorgänger unterziehen. Berufungen auf die Arbeiten von Vlastislav Lacina, Zdeněk Deyl und Rudolf Olšovský (um nur einige Namen zu nennen) sind daher häufig, weil diese immer noch nutzbringend sind. Kritisch hingegen wendet sich der Band, wie besonders aus dem Vorwort von Průcha hervorgeht, gegen postkommunistische "Mythen" in der allgemeinen historischen wie der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur: die Neigung zur Idyllisierung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Ersten Republik, die Überschätzung ihrer Position im europäischen und weltweiten wirtschaftlichen Kontext, die Übernahme national restringierter Aussagen der sudetendeutschen Historiografie und der späten Parteigänger des ľudakistischen Regimes in der Slowakei sowie schließlich die Tendenz, die gesellschaftliche Entwicklung der Tschechoslowakei nicht anhand der Lage der größten Bevölkerungsgruppen, sondern aus der Sicht der Eliten zu beurteilen. Gerade in diesem letzten Punkt bleibt allerdings noch einiges zu tun, ehe es mit der Manier vorbei ist, die Darstellung dieses oder jenes Problems wirtschaftlicher, sozialer oder gesellschaftlicher Art mit Masaryk-Zitaten zu dekorieren, gleichgültig, ob diese nun erhellend sind oder nicht.

Von Autorenkollektiven durchgeführte Untersuchungen haben ihre Vor- und Nachteile, wie jedermann weiß. In diesem Band überwiegen ganz eindeutig die Vorteile. Spezialistische Arbeitsteilung gewährleistet auf der einen Seite, dass das Thema in allen seinen Aspekten und Verästelungen gleichmäßig mit hoher Detailkenntnis aufgearbeitet wird (dazu gehört auch der überall erkennbare kritische Umgang mit den statistischen Quellen) und ein Gefälle in der analytischen Durchdringung des Stoffes vermieden werden kann. Davon profitiert übrigens auch die Darstellung der slowakischen Verhältnisse, die hier qualitativ besser als je zuvor in den Rahmen des Gesamtstaates integriert werden. Andererseits ist die Koordinierungsleistung des Bandes hervorzuheben: Kein Abschnitt, kein Kapitel oder Unterkapitel erweckt den Eindruck, dass sich die jeweilige Autorin bzw. der jeweilige Autor ohne Berücksichtigung der großen integrativen Fragestellungen der Untersuchung sein spezialistisches Süppchen kocht. Durchgehend ist beispielsweise das sich gewiss nicht von selbst ergebende Bemühen zu erkennen, die Forschungsergebnisse - wo irgend möglich und sinnvoll - in internationale Zusammenhänge einzuordnen, in besonders gelungener Weise etwa bei der Darstellung der Weltwirtschaftskrise. In einem (wichtigen) Punkt allerdings hätte die Koordinierung meines Erachtens rigoroser durchgeführt werden können, und zwar in der Frage der Kapitalbildungsprozesse. Die Ausführungen zum Auslandskapital in der Tschechoslowakei verzichten auf die in diesem Zusammenhang nahe liegende Frage nach den gesamten Voraussetzungen der Kapitalbildung in der Zwischenkriegszeit (deren Untersuchung die Tschechoslowakei von anderen mittel- und südosteuropäischen Staaten stärker absetzen und ihr eigenes Profil verdeutlichen würde). Andererseits taucht das Problem in verschiedenen Kontexten und verstreuten Bemerkungen wieder auf (etwa bei der durch Kapitalarmut erschwerten industriellen Restrukturalisierung nach der Weltwirtschaftskrise), ohne dass versucht wird, die vielen isolierten Hinweise zusammenzufassen und daraus verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen.

Begründeten Anlass zu Kritik gibt die uns vorliegende imponierende Arbeit allerdings nur in der Hinsicht, dass die Wirtschafts- und die Sozialgeschichte an vielen Stellen enger miteinander verklammert werden könnten. Das Problem liegt hier zunächst darin, dass die tschechische und die slowakische Forschung zur sozialen / gesellschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert bisher nicht über erste Ansätze hinausgekommen sind, und dies gilt ganz besonders für die Analyse sozialer Konflikte. Darauf wird im Vorwort zu Recht hingewiesen. Dieses Defizit ließe sich jedoch ohne größeren Aufwand verringern, etwa im Hinblick auf den industriellen Konflikt. Statt für jede Periode der wirtschaftlichen Entwicklung immer wieder aufs Neue gesondert auf den entsprechenden Verlauf von Arbeitskämpfen hinzuweisen, empfiehlt sich die auch statistisch überzeugend darstellbare langfristige Korrelierung von Konjunkturphasen und Streikhäufigkeit, wie dies die Streikforschung seit Langem mit Gewinn tut. Mit der Einbeziehung des Faktors "Beteiligung" würden dann auch Aussagen über die langfristige Rationalisierung von Arbeitskämpfen ermöglicht, die wiederum Rückschlüsse auf das Konfliktverhalten der Arbeiterschaft erlauben.

Dieser Einwand ändert jedoch nicht das Geringste daran, dass wir mit dem hier besprochenen Band einen großen Wurf der tschechischen Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung vor uns haben, der auf lange Zeit nur schwer zu überbietende Maßstäbe setzen wird.

Peter Heumos