Eszter Bartha: Alienating Labour. Workers on the Road from Socialism to Capitalism in East Germany and Hungary (= International Studies in Social History; Vol. 22), New York / Oxford: Berghahn Books 2013, VI + 362 S., ISBN 978-1-78238-025-2, GBP 60,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Diese vergleichende Untersuchung beruht zu einem großen Teil auf Interviews mit Arbeitern zweier Großbetriebe, der Carl Zeiss-Werke in Jena und der Waggon- und Maschinenfabrik Rába in Györ, die in den Jahren 2002-2004 durchgeführt wurden. Die Erkenntnisse, die die Studie aus Archivalien und der Sekundärliteratur gewinnt, erhärten die Annahme Eszter Barthas, dass die Einschätzungen der befragten Arbeiter als weitgehend repräsentativ für die Haltung der gesamten Arbeiterschaft gelten können.
Der Untersuchungszeitraum reicht von den späten 1960er Jahren bis in das erste Jahrzehnt nach dem Kollaps des Staatssozialismus. Ausgangspunkt der Analyse ist nicht die umfassende Frage nach den hauptsächlichen strukturellen Bedingungen des Zusammenbruchs des Realsozialismus, wie sie heute in erster Linie im modernisierungstheoretischen Interpretationsrahmen, in der Perspektive des "kommunistischen Neo-Traditionalismus" und anhand des begrifflichen Instrumentariums des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus (Systemtheorie) diskutiert wird. Was die Verfasserin interessiert, ist die (mit den Mitteln "klassischer" Sozialgeschichte bearbeitete) Frage nach den langfristig wirksamen sozialen und politischen Bedingungen der Erosion des Verhältnisses zwischen der Kommunistischen Partei und der Arbeiterschaft als dem Kern ihrer sozialen Basis. Dass die Arbeiterschaft 1989 angesichts der Resurrektion des Kapitalismus passiv blieb, lag, so die Verfasserin, in der Logik der vorangegangenen Entwicklung. An diese knüpft sich die zentrale These der Untersuchung; sie lautet, dass der in Ungarn wie in der DDR Ende der 1960er beziehungsweise in den 1970er Jahren vollzogene Übergang zur sozialistischen "Wohlfahrtsdiktatur" (welfare dictatorship) im Rahmen der von János Kádár initiierten Wirtschaftsreformen und der von Erich Honecker verfolgten Politik der Hebung des Lebensstandards den Keim einer wachsenden Entfremdung zwischen Partei und Arbeiterschaft in sich trug.
Belegt wird diese These an der Aufarbeitung von drei Themenkomplexen. Erstens wird danach gefragt, ob und in welchem Maße die Politik der Hebung des Lebensstandards den sozialen Frieden in der Arbeiterschaft im Verhältnis zur Kommunistischen Partei sicherzustellen vermochte. Zweitens geht es um die Gründe, die zur Auflösung des traditionellen Arbeitermilieus und damit zur Schwächung der kollektiven Handlungsfähigkeit der Arbeiterschaft führten. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Arbeiterschaft in allen staatssozialistischen Ländern in weit stärkerem Maße als die Kommunistische Partei egalitäre Ziele verfolgte, wird drittens untersucht, ob und in welchem Ausmaß die Politik der Partei soziale und kulturelle Unterschiede in der Arbeiterschaft (wie in der Gesellschaft überhaupt) einebnete.
Konsumorientierung und Individualisierungsschübe im Gefolge der "Wohlfahrtsdiktatur" gingen an der Arbeiterschaft nicht vorbei und bewirkten insgesamt einen Rechtsruck der Gesellschaft. Da die Partei ihre Politik der Hebung des Lebensstandards als förmlichen Kompromiss mit der Arbeiterschaft über die Generallinie der gesellschaftlichen Steuerung und als Garant dafür betrachtete, dass sich die Schreckensszenarien von 1953 beziehungsweise 1956 nicht wiederholten, konnte sich keine innerparteiliche Kritik an dieser Politik formieren. Die in Ungarn weit mehr als in der DDR durch die "Wohlfahrtsdiktatur" vorangetriebene soziale Differenzierung der Gesellschaft führte dazu, dass sich die Masse der Arbeiter - da sie ihren Lebensstandard nicht aufrechterhalten konnte - vor allem in landwirtschaftlichen Familienbetrieben und im staatlich konzedierten privaten Wirtschaftssektor eine zweite Erwerbsmöglichkeit suchen musste. In der DDR verfestigte sich - als entsprechende Erscheinung - die "Vergesellschaftungsform" der informellen Tauschbeziehungen auf Betriebsebene, deren Funktion auch darin lag, die mangelnde Versorgung mit Konsumgütern zu kompensieren. Der Rückzug der Partei aus Positionen, die mit sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft verbunden waren, ging durchaus mit der Einsicht der Parteieliten in das dadurch begründete politische Konfliktpotenzial einher; das zeigen Zugeständnisse in der Frage der innerbetrieblichen Demokratie im ungarischen Fall und die ebenso kompensatorisch gedachte stärkere Einbindung der Arbeiter in die kommunale Politik in der DDR.
Das Buch ist unter methodischen Gesichtspunkten eine Bereicherung, weil es den mainstream der Literatur mit seinen immer wieder aufs Neue fortgeschriebenen konzeptionellen Fragwürdigkeiten hinter sich lässt. Die Masse der Literatur macht den Zusammenbruch des Staatssozialismus und die Restauration des Kapitalismus zum alleinigen Bezugspunkt ihrer Analyse, kann dann retrospektiv überall nur Indikatoren eines (gleichsam teleologisch gerichteten) Verfallsprozesses entdecken und sich dementsprechend zumeist einer rigoros finalisierenden Argumentationsweise bedienen.
Bartha verzichtet auf diese trügerische "allwissende" Perspektive: Versteht man - wie etwa in der Systemtheorie üblich - geschichtliche Abläufe als Selektionsprozess, beeinträchtigt die Begrenzung auf eine Entwicklungsmöglichkeit den Erklärungsgehalt der Analyse. Für Bartha ist der Bezugspunkt ihrer Untersuchung die Entwicklungsalternative des demokratischen Sozialismus, wie dieser sich vor allem in den ungarischen und polnischen Revolten des Jahres 1956 und in Ansätzen auch im Prager Frühling 1968 artikulierte. Damit entfällt die Möglichkeit, den Kollaps des Staatssozialismus bloß vor dem Hintergrund der erfolgreichen Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften wahrzunehmen und seinem Zusammenbruch von daher das übliche "geschlossene" Interpretationsmuster überzustülpen.
Eher beiläufig lässt die Verfasserin deutlich werden, wie sich der Großteil der Forschung den Untersuchungsgegenstand zurechtlegt, um zu diesem "geschlossenen" Interpretationsmuster zu kommen. Auch wenn aus den oben erwähnten Interviews hervorgeht, dass die Arbeiter nach 1989 im Ganzen positive Erfahrungen machten, hielten sie an den Wertorientierungen des demokratischen Sozialismus fest und beriefen sich dabei ausdrücklich auf soziale Verhältnisse in der staatssozialistischen Ära. Demgegenüber gibt sich die Literatur alle Mühe, den Nachweis zu führen, dass auch die Arbeiterklasse im Staatssozialismus bestenfalls trade-unionistische Erwartungen hegte und glänzende Verheißungen skeptisch auf Mark und Pfennig durchzurechnen pflegte. Dagegen ist daran zu erinnern, dass vor allem Gewerkschaften im Westen abwiegelten, wenn sich im Staatssozialismus Machtverschiebungen zugunsten der Arbeiter und damit Perspektiven der grundlegenden Verbesserung ihrer gesellschaftlichen und materiellen Lage abzeichneten: Als die Solidarność entstand, gab der DGB eine Sprachregelung für seine unteren Chargen heraus: Die materielle Lage der Arbeiter in Deutschland sei zufrieden stellend, utopische Forderungen brauche man nicht.
Das Verdienst der vorliegenden Untersuchung besteht indessen gerade darin, über diese Sehweise hinauszugehen und die Erklärungshaltigkeit der ihr folgenden wissenschaftlichen Literatur in Frage zu stellen. In der Tat: Diese Literatur weiß - dank der Sozialanthropologie - fast alles über das feine Gespinst sozialer und kultureller Normen, die im Alltagsverhalten und in den Kulten der Irokesen eine Rolle spielten. Aber an irgendeinem Punkt der wissenschaftlichen Entwicklung lässt sie das komplexe irokesische Individuum in die Mühlen des Reduktionismus geraten, denen dann unversehens der mitteleuropäische Arbeiter des 20. Jahrhunderts entspringt, der sich mit seinen Händen "spasmodisch" auf den Bauch schlägt und auf elementare ökonomische Stimuli reagiert.
Peter Heumos