Rezension über:

Marie-Catherine Vignal Souleyreau: Richelieu et la Lorraine (= Logiques historique), Paris: L'Harmattan 2004, 431 S., ISBN 978-2-7475-6774-9, EUR 33,00
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Rezension von:
Anuschka Tischer
Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christine Roll
Empfohlene Zitierweise:
Anuschka Tischer: Rezension von: Marie-Catherine Vignal Souleyreau: Richelieu et la Lorraine, Paris: L'Harmattan 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/7281.html


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Marie-Catherine Vignal Souleyreau: Richelieu et la Lorraine

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Die Studie über die Lothringen-Politik Richelieus ist die "synthèse" einer bei Yves Durand an der Sorbonne entstandenen Dissertation. Die Autorin ist für die Thematik in besonderem Maße qualifiziert, denn sie ist zugleich Mitarbeiterin bei der Edition der Richelieu-Papiere. [1] Die Studie basiert auf Quellen aus acht französischen Archiven und dem spanischen Generalarchiv in Simancas. Darüber hinaus hat Vignal Souleyreau offenbar weitere Archive wie das des Vatikans (251) konsultiert, allerdings ohne diese im Archivverzeichnis aufzuführen.

Vignal Souleyreau erarbeitet die französisch-lothringischen Beziehungen im Zeitraum vom ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts bis zum Vertrag von Saint-Germain / Paris von 1641, wobei Überlieferungslücken eine Rekonstruktion der Ereignisse der Jahre 1637-1641 erschweren. Der Zeitraum der Untersuchung umfasst den Beginn inner-lothringischer sowie lothringisch-französischer Krisen. Diese eskalierten während der Regierung Herzog Karls IV. von Lothringen und Bar, unter anderem dadurch, dass der Herzog den eigenständigen Herrschaftsanspruch seiner Ehefrau und Cousine Nicole zunächst anerkannte, sich dann aber in einem rechtlich und politisch fragwürdigen Akt gegen sie zum alleinigen Regenten erklären ließ. Die Herzöge waren auf die Wahrung und den Ausbau ihrer Unabhängigkeit bedacht, doch Frankreich zeigte an den Herzogtümern an seiner Ostgrenze verstärktes Interesse aufgrund lehnsrechtlicher Prätentionen auf Teile des herzoglichen Herrschaftsgebietes, geostrategischer Überlegungen sowie Interessenüberschneidungen bei der eigenen Herrschaftsausdehnung und -konsolidierung in Metz, Toul und Verdun. Karls IV. pro-habsburgische Politik inmitten des Dreißigjährigen Krieges, seine Unterstützung für französische Oppositionelle, schließlich auch die geheime Heirat seiner Schwester Marguerite mit Gaston d'Orléans, dem oppositionellen Bruder und zu der Zeit noch präsumptiven Nachfolger Ludwigs XIII., motivierten zu Beginn der 1630er-Jahre eine militärische Interventionspolitik Frankreichs, die Karl IV. zu mehreren einschneidenden Verträgen zwang. 1634 eskalierte die Situation mit der Verurteilung Karls IV. durch das Pariser Parlament und seiner Vertreibung aus seinen Territorien. Der Herzog kämpfte fortan auf spanischer Seite gegen Frankreich. Ein erneuter französisch-lothringischer Vertrag von 1641 brachte keine Lösung. Erst nach dem französisch-spanischen Pyrenäenfrieden 1659 arrangierte sich Karl IV. 1661 im Vertrag von Vincennes mit Frankreich, musste aber nach einer weiteren Auseinandersetzung 1670 erneut ins Exil gehen. Lothringen blieb dann bis 1698 besetzt.

Thematisch deckt die Studie von Vignal Souleyreau die Ereignisse ab, die bereits Rainer Babel in seiner Dissertation [2] untersucht hat, wobei Babel den Fokus auf die Person und Politik Karls IV. von seinem Regierungsantritt 1624 bis zu seiner Exilierung 1634 richtete. Vignal Souleyreau analysiert dagegen die französische Regierungspolitik gegenüber Lothringen in einem breiteren Zeitrahmen. Aber nicht nur deshalb ist diese Arbeit vom Inhalt her eine andere als die Babels: Vignal Souleyreau bettet die politischen und militärischen Ereignisse in ein weites strukturelles Umfeld: Sie stellt Lothringen und Bar als geografisches, politisches und lehnsrechtliches Phänomen vor; sie ordnet den Konflikt ein in einen sich lange entwickelnden französisch-lothringischen Gegensatz; sie präsentiert Lothringen und Bar im Vorfeld der französisch-lothringischen Eskalation nicht nur politisch, sondern unter Berücksichtigung vielfältiger Faktoren wie Kultur und Religion; sie zeigt die theoretische Basis auf, die beide Seiten sich für ihre Position schufen; und sie analysiert schließlich, welches die Folgen der kriegerischen Verwicklung für das Territorium selbst waren. Die Studie wird abgerundet durch die Edition von 18 Kerndokumenten der Auseinandersetzung, die bisher nur in älteren Sammlungen oder gar nicht veröffentlicht waren.

Die Stärke des Buches liegt in dieser Einordnung des Konflikts Ludwigs XIII. und Richelieus mit Karl IV. in einen komplexen Kontext. Die Schwäche liegt in der Darstellung dieser Ereignisse selbst. Vignal Souleyreau strukturiert ihren Kapitelaufbau in diesem Teil rein chronologisch, selbst die Benennung der Oberkapitel erfolgt weitgehend nach den entsprechenden Jahren, zentrale Ereignisse muss sich der Leser anhand der Titel der Unterkapitel erschließen, wenn sie nicht überhaupt erst aus dem Text selbst hervorgehen. Eine stärker sach- und problemorientierte Aufbereitung des Konflikts wäre hier wünschenswert gewesen. Vor allem aber fehlt bei Vignal Souleyreau eine ganz entscheidende Dimension, dass sich nämlich der Konflikt um Karl IV., wie Babel es ausdrückte, "zwischen Habsburg und Bourbon" abspielte. Vignal Souleyreau anerkennt zwar die Bedeutung der außenpolitischen Gesamtkonstellation, insbesondere des Dreißigjährigen Krieges, für die Entwicklung des französisch-lothringischen Konflikts, aber sie setzt diese Erkenntnis nicht um. Abgesehen von einem nur elfseitigen Kapitel über die päpstliche Position erscheinen die außerfranzösischen und außerlothringischen Mächte nicht als politische Akteure. Bezeichnenderweise zitiert Vignal Souleyreau nicht einmal Bände der außenpolitischen Sektion der Edition der Richelieu-Papiere. Auch eine Einordnung der Analyse in die internationale Forschung findet nicht statt: Zentrale Werke wie das Babels finden sich zwar im Literaturverzeichnis, bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, dass es so gut wie gar nicht rezipiert wurde. Vignal Souleyreau schildert die zeitgenössischen Zweifel an der Echtheit des Testaments Renés II. von Lothringen, das Karl IV. erst die Handhabe gab, den Herrschaftsanspruch von Herzogin Nicole anzugreifen, unerwähnt bleibt aber die bis in die aktuelle Forschung reichende Diskussion über die Echtheits-Frage. Der Westfälische Frieden findet Erwähnung, weil die endgültige Abtretung von Metz, Toul und Verdun an Frankreich lothringische Interessen bedrohte und Karl IV. zum Protest veranlasste sowie wegen der durch den Erwerb der elsässischen Herrschaftsrechte verstärkten geostrategischen Bedeutung Lothringens für Frankreich. Unerwähnt bleibt dagegen, dass Karl IV. über den Gesandten Antoine Rousselot d'Hédival versuchte, in Westfalen eine eigene Kongresspolitik zu betreiben. Vor allem fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass das Schicksal des Herzogs zum zentralen Punkt der französisch-spanischen Verhandlungen in Münster wurde, diese schließlich zum Scheitern brachte und alle Versuche, den Krieg zu beenden, bis 1659 belastete.

Die Studie bietet somit insgesamt einen Einblick in den französisch-lothringischen Konflikt in den 1620er- bis 1640er-Jahren aus französischer Regierungsperspektive mit zahlreichen interessanten Ansätzen für die Ursachen und die langfristige Einordnung der Problematik. Wer allerdings ein angemessenes Bild des Konfliktes selbst gewinnen will, der kann auf die Konsultation der bisherigen Forschungsliteratur bei der Lektüre dieser Studie nicht verzichten.


Anmerkungen:

[1] Les Papiers de Richelieu: Section politique intérieure, Bd. 7 (1632), bearb. von Marie-Catherine Vignal Souleyreau, Paris [im Druck].

[2] Rainer Babel: Zwischen Habsburg und Bourbon. Außenpolitik und europäische Stellung Herzog Karls IV. von Lothringen und Bar vom Regierungsantritt bis zum Exil (1624-1634) (= Beihefte der Francia; 18), Sigmaringen 1989.

Anuschka Tischer