Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, 445 S., ISBN 978-3-10-000420-8, EUR 22,90
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Mit der provokanten These, die Deutschen hätten Hitler aus materieller Gier unterstützt, ist das neue Buch Götz Alys zum Medienereignis geworden. Dabei ist auffällig, dass die Kernaussagen des Buchs zur NS-Wirtschaftsgeschichte bislang kaum debattiert wurden, obwohl sie sich mit einer neueren Forschungsdiskussion berühren. In beiden Fällen geht es um die Bewertung der Wirtschafts- und Finanzpolitik des "Dritten Reichs". Aly beschreibt sie als eine höchst erfolgreiche Umverteilungspolitik, von der das Gros der Deutschen profitiert habe. Den nationalsozialistischen Machthabern sei es gelungen, das "Volk" permanent mit sozialpolitischen Wohltaten, Steuervergünstigungen und Verbesserungen des Lebensstandards bei Laune zu halten, finanziert in zunehmendem Masse aus geraubten Vermögen und der Ausplünderung besetzter Länder. Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie sich dieses Modell zu den Befunden der wirtschaftshistorischen Forschung verhält.
Gemessen am Echo der Medien ist es zunächst bemerkenswert, dass Aly mit vielen Fakten argumentiert, die als solche weder neu noch strittig sind. Dass der NS-Staat einen erheblichen Teil seiner Kriegskosten aus den besetzten Ländern herauspresste, ist seit Langem bekannt, und auch dass der deutsche Fiskus von Zwangsarbeit, "Arisierungen" und Raub mehr profitierte als die großen Konzerne, ist längst vielfältig dokumentiert. Es sind in "Hitlers Volksstaat" weniger die Fakten neu als die Zusammenhänge, in die sie hier gestellt werden. So wissen wir durch die Forschungen Willy A. Boelckes seit zwanzig Jahren, dass die nationalsozialistischen Machthaber aufgrund traumatischer Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg davor zurückschreckten, der deutschen Bevölkerung Kriegssteuern aufzuerlegen. Bei Aly wird daraus nun aber ein Kernmerkmal eines nationalsozialistischen "Volksstaats", der seine Angriffskriege nicht mit Steuereinnahmen, sondern mit geraubten Vermögen bezahlte, weil sich das Regime die Zustimmung der Bevölkerung ständig erkaufen musste. Erst diese Deutungen haben Alys Werk in die Diskussion gebracht und sie sind zugleich das zentrale Problem des Buchs. Denn die Aussage, dass es sich bei dem nationalsozialistischen Raubzug um einen Masterplan zum Wohl des deutschen Verbrauchers gehandelt habe, wird durch das präsentierte Quellenmaterial keineswegs belegt. Man kann diese Zitate und Daten ebenso gut ganz anders deuten. "Hitlers Volksstaat" ist so gesehen nicht eine neue Geschichte des "Dritten Reichs", sondern ein Modell über die Zusammenhänge von "Massenraubmord" und Wohlfahrtsstaat, das der Überprüfung bedarf.
Alys Modell steht und fällt mit der Frage, ob sich der Lebensstandard der deutschen "Normalverbraucher" durch die nationalsozialistische Politik signifikant verbessert hat oder ob es gar - wie man im Klappentext zu "Hitler Volksstaat" lesen kann - den Deutschen im Krieg besser gegangen sei "als je zuvor". Umso überraschender ist es, dass das Buch zu dieser zentralen These keine stichhaltigen empirischen Belege bietet. Für Aly ergibt sich der angebliche Wohlstand der "einfachen Deutschen" unter der NS-Kriegsdiktatur gleichsam als Schlussfolgerung aus dem Umfang des Vermögensraubs und den sozialpolitischen wie fiskalischen Geschenken des Regimes an den Normalverbraucher. Nun gibt es zum Lebensstandard im Dritten Reich aber auch Daten und neue Forschungsergebnisse, die Aly entweder nicht kennt oder nicht kennen will. Denn diese Untersuchungen zeigen, dass sich der Lebensstandard der Deutschen in der NS-Zeit eben nicht verbesserte. Jörg Baten und Andrea Wagner haben nachgewiesen, dass sich der biologische Lebensstandard im Dritten Reich sogar verschlechterte - und zwar nicht erst im Krieg, sondern schon seit 1933. Anders als etwa in Großbritannien nahmen in Deutschland nach 1933 die Mortalitätsquote zu und die durchschnittlichen Größen von Kindern ab - beides klare Indikatoren für ein Absinken des Lebensstandards. Die Gründe dafür lagen vor allem in der Drosselung der Nahrungsmittelimporte durch die Autarkieprogramme des Regimes. Hinzu kamen die Umstrukturierungen und Einschränkungen der deutschen Konsumgüterindustrie im Rahmen der Kriegsrüstung, die permanente Versorgungsengpässe im Bereich des zivilen Bedarfs zur Folge hatten. Zu ähnlichen Befunden gelangt André Steiner, der sich intensiv mit Fragen der Preisbildung und des Lebensstandards in der NS-Zeit beschäftigt hat. Devisenmangel und Kriegsrüstung schränkten den Konsum der Deutschen schon seit Mitte der dreißiger Jahre ein. Der Verkauf von frischem Brot wurde verboten, Kleider wurden aus Stoffen minderer Qualität hergestellt, der verordnete Preisstopp führte zu schleichenden Preissteigerungen durch Qualitätsverschlechterungen. Man wird vor diesem Hintergrund weder das NS-Regime als besonders verbraucherfreundlich bezeichnen noch die Zustimmung zu Hitler auf das Versorgungsniveau zurückführen können.
Zwar hungerten die deutschen "Normalverbraucher" im Zweiten Weltkrieg - anders als im Ersten Weltkrieg - nicht, weil die Versorgungslage im Reich durch die Ausplünderung der besetzten Länder stabilisiert wurde. Die erzwungenen Transferleistungen konnten aber die Versorgungsmängel nicht ausgleichen, die das NS-Wirtschaftssystem durch Kriegsrüstung, Abschottung vom Weltmarkt und Schrumpfung des Konsumgütersektors bewirkte. Richtig ist, dass die Deutschen im Krieg genug Brot zu essen hatten, im Unterschied zu vielen von ihnen versklavten Völkern. Aber es war schlechtes Brot und nur gegen Reichsbrotkarten zu erhalten - kaum Grund genug, deshalb dauerhaft zufrieden zu sein und sich für den Krieg zu begeistern. Aly selbst liefert im Übrigen anschauliche Belege dafür, dass es den Deutschen in Hitlers Krieg eben nicht besser ging "als je zuvor". Wie anders könnte man sonst erklären, dass die in den besetzten Ländern stationierten Truppen scheinbar ununterbrochen Feldpostpäckchen mit Lebensmitteln und Gebrauchsartikeln nach Hause schickten und sich auf dem Weg in den Heimaturlaub ihr Gepäck bis obenhin voll stopften? Das war nicht die Gier des saturierten Schnäppchenjägers, sondern eben das typische Verhaltensmuster in einer Mangelwirtschaft. Und wenn die NS-Machthaber, wie Aly annimmt, sich "fast stündlich" gefragt haben, "wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern könnten" (36), dann dürfte ihr Motiv dabei nicht die Sorge um das Wohl des deutschen Verbrauchers gewesen sein, sondern die Befürchtung, dass die selbst geschaffene Mangelwirtschaft die deutsche Kriegsmaschine lahm legen könnte.
Die Irrtümer, die Aly über den Lebensstandard der Deutschen im Krieg verbreitet, sind in diesem Buch leider kein Einzelfall. Es gehört zur Methode des Autors, Zusammenhänge zu ignorieren, die nicht in seine Thesen passen. So wird etwa die rasante Zunahme der Spareinlagen und der untergebrachten Staatspapiere im Krieg als Vertrauensbeweis der Bevölkerung für das NS-Regime dargestellt ("Sparen und Vertrauen"). Nicht erklärt wird dem Leser, dass es praktisch keine Alternativen zu diesen Anlageformen gab, da die Aktien- und Immobilienmärkte durch die rigide staatliche Kapitallenkung trockengelegt worden waren. Der enorme Kaufkraftüberhang, der durch die Mangelwirtschaft im Krieg entstand, wurde seit Ende 1941 zudem durch steuerbegünstigtes Sparen ("Eiserne Sparkonten") abgeschöpft. Die Nutzung von Steuervorteilen kann aber wohl nicht gerade als Gradmesser für politische Einstellungen gelten. Ebenso wenig kann der Rückgang der Spareinlagen im Jahr 1944 als Misstrauensbeweis gegenüber dem Regime gedeutet werden, wie Aly dies darstellt. Angesichts der Luftangriffe und der herannahenden Front war es auch für überzeugte Nationalsozialisten praktischer, das Geld nicht auf der Bank zu lassen. Ein anderes Beispiel: Aly will den Eindruck vermitteln, in Hitlers "Volksstaat" seien die Gewinne der großen Unternehmen durch eine antikapitalistische Fiskalpolitik an die kleinen Leute verteilt worden. Die grundlegende Untersuchung Mark Spoerers, die ein ganz anderes Bild zeigt, bleibt dabei unerwähnt. Wie Spoerer belegt, konnten die deutschen Aktiengesellschaften ihre sprunghaft zunehmenden Gewinne leicht vor dem Fiskus retten, indem sie stille Reserven bildeten - und das war dem Reichsfinanzministerium sicher nicht unbekannt.
Die bisherige Debatte um "Hitlers Volksstaat" hat gezeigt, dass die von Aly präsentierten Daten mit großer Vorsicht zu bewerten sind. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze konnte nachweisen, dass die Angaben in einem zentralen Punkt, nämlich der Höhe der Transferleistungen aus den besetzten Ländern, schlichtweg auf einem Berechnungsfehler beruhen. Fast schwerer wiegt aber noch, dass in diesem Buch grundlegendes Datenmaterial unberücksichtigt bleibt. Aly muss sich daher den Vorwurf einer einseitigen Auswahl von Quellen und Literatur gefallen lassen. Die so entstandene Legende von "Hitlers Volksstaat" wird dadurch nicht richtiger, dass sie in die fünfte Auflage geht. Doch ist der Erfolg dieses Buchs auch ein Lehrstück, das der Fachwelt zu denken geben muss. Er zeigt, dass die tatsächlichen Zusammenhänge von Wirtschaftsentwicklung und Lebensstandard während der NS-Zeit trotz zahlreicher Einzeluntersuchungen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind.
Johannes Bähr