Wolfgang Kahl: Hochschule und Staat. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen eines schwierigen Rechtsverhältnisses unter besonderer Berücksichtigung von Aufsichtsfragen, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 134 S., ISBN 978-3-16-148414-8, EUR 34,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Eva Alram-Stern / Georg Nightingale (Hgg.): Keimelion: Elitenbildung und elitärer Konsum von der mykenischen Palastzeit bis zur homerischen Epoche. Akten des internationalen Kongresses vom 3. bis 5. Februar 2005 in Salzburg, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007
Roland Färber / Fabian Link (Hgg.): Die Altertumswissenschaften an der Universität Frankfurt 1914-1950. Studien und Dokumente, Basel: Schwabe 2019
Carsten Claußen: Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002
"Hochschule" und "Staat" bezeichnen die beiden Pole einer wechselseitigen Beziehung, zu der Wolfgang Kahl "entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen" anstellen will. Er beginnt diese mit der Gründung der ersten deutschen Universitäten im 14. und 15. Jahrhundert und spannt den Bogen bis zu einem Ausblick auf die "Hochschule vor einem historischen Paradigmenwechsel" aus der Perspektive des Jahres 2004. Zehn Paragrafen sollen den wechselhaften Prozess der Ausgestaltung der Beziehungen von Hochschule und Staat im Spannungsfeld zwischen korporativer Autonomie und Ausgestaltung als Anstalt nachzeichnen (1-91); die beiden Schlusskapitel konzentrieren sich auf die Diskussion aktueller hochschulpolitischer Reformen; vor allem geht es dort um die gestärkten Leitungsorgane und die Hochschulräte (92-116). Besonders hier dominieren rechtsdogmatische Überlegungen.
In einer von "durch Sparzwänge des Staates" diktierten Umbruchsphase der Hochschulentwicklung, in einer Zeit der Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten, die zu "Humboldt" und der "Gelehrtenrepublik" zurückwollten, und Progressiven, die die Universität als "wissenschaftliches Dienstleistungsunternehmen" sähen, und im Streit um die "Ökonomisierung" will das Buch "historische Rückbesinnung, Reflektion [sic] und Standortvergewisserung" (2) bieten. Dabei soll die "geschichtliche Entwicklung für sich sprechen" und "ganz im Sinne des Petitums von Odo Marquard, dass die Zukunft Herkunft braucht, die es zu vergegenwärtigen gilt", als "Basis, jedenfalls aber als Hintergrund der aktuellen Strukturreformdebatten" dienen (4).
Mit Staunen nimmt der Rezensent wahr, mit welcher Selbstgewissheit hier komplexe Sachverhalte zusammengefasst werden. Von der Ursachenanalyse ("Sparzwänge") bis zur Charakteristik der Konfliktparteien ist nichts von subtilem Unterscheiden zu beobachten, sondern werden einfache Szenarien entwickelt. Sie passen gut zu der Naivität, dass die Entwicklung für sich selber spreche. Ob für eine solche rustikale Gefechtsanordnung der Name Odo Marquards vereinnahmt werden darf, ist vielleicht nicht nur eine Geschmacksfrage.
Die grundsätzlichen Unzulänglichkeiten dieses Büchleins liegen freilich tiefer, nämlich in der Konstitution des Gegenstandes. Kahl bespricht die Entwicklung des Verhältnisses von "Staat" und "Hochschule", ohne je zu problematisieren, dass beide im Laufe von weit über 600 Jahren keine unveränderlichen Größen sind. Man kann Stifter und Obrigkeiten des Spätmittelalters nicht stracks als Staaten klassifizieren, die ihre Gewalt freilich "eher zurückhaltend und mit einer 'invisible hand' ausgeübt" hätten (7). Überdies hat Kahl anscheinend noch nie davon gehört, dass die "invisible hand" eben niemandes Hand ist. Oder wie denkt er sich die "unsichtbare Hand" eines konkreten Akteurs? Wie im Marionettentheater? Wahrscheinlich ist alles nur (Bildungs-)Attitüde!
Der Mangel an Differenzierung geht einher mit einem Verzicht auf systematische historische Kontextualisierung mit den jeweils spezifischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen. Zu Recht stellt Kahl etwa fest, dass sich der mangelnde Schutz gegen "nahezu jeden diskretionären Eingriff in die akademische Freiheit" (30) "im Universitätsalltag Preußens nicht übermäßig bemerkbar gemacht" (31) habe, und erklärt den Befund mit dem liberalen "Gedanken der Lehrfreiheit" (32), also mit einer nicht juristisch gefassten, sondern so nur in Ansätzen umgesetzten Selbstbeschränkung, die unter anderen politischen Umständen (etwa in den 1830er-Jahren) zu Gunsten massiver Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit aufgegeben wurde. Gerade hieran wird deutlich, wie wenig die streng auf die Rechts- und Aufsichtsverhältnisse konzentrierte Interpretation es erlaubt, die Lage der Universitäten adäquat zu erfassen.
Außerdem wird man zwar gerne zugestehen, dass die Entwicklung des preußischen Universitätswesens im 19. Jahrhundert für Deutschland besonders wichtig gewesen ist; aber es ist doch ein Rückfall in in der Geschichtswissenschaft längst überwundene Verengungen, wenn daneben fast gar nichts mehr sichtbar wird. Kahl ist diese Einschränkung und Auswahl nicht einmal eine Bemerkung wert.
Erstaunliche Simplifizierungen lassen sich nicht nur bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit beobachten: Kahl betrachtet auch in den Schlusskapiteln ausschließlich staatliche Hochschulen, ja sogar nur Universitäten. Bezeichnenderweise führt der einzige Beleg für das Stichwort "Fachhochschule" im Register auf eine Bemerkung zum von Humboldt verhinderten "Fachhochschulprinzip" (25). Ebenso unbefriedigend und unzulänglich ist es, dass nirgends danach gefragt wird, wem denn die aus der Wissenschaftsfreiheit abgeleitete Autonomie und Selbstverwaltung zukomme - natürlich mit gutem Grund den Professoren, aber wirklich nur ihnen? Welche Konsequenzen haben die Differenzierung der Hochschullehrerschaft (Stichworte aktuell: Juniorprofessoren, Teilzeitprofessoren, künftig vielleicht auch Lehrprofessoren) und das immer kompliziertere Verhältnis von Grundlagen- und Auftragsforschung, von Bildung, Ausbildung und Weiterbildung für die Freiheit von Forschung und Lehre sowie für Selbstverwaltung?
Antworten auf solche Fragen mögen bei einer auf juristische Dogmatik konzentrierten Bemühung verzichtbar sein. Wer sich aber an der hochschulpolitischen Debatte beteiligen will, hat diese Aspekte zu berücksichtigen. Dabei ist Polemik durchaus erwünscht und stimulierend. Man sollte sie aber nicht mit der Aufreihung wohlfeiler Schlagworte wie "Vermassung, Niveauabsenkung und Überbürokratisierung" (113) und - natürlich! - "Ökonomisierung" verwechseln.
Es sei ausdrücklich betont, dass es in dieser Besprechung durch einen Nicht-Juristen nicht um rechtswissenschaftliche Sachfragen gehen konnte. Das Buch erhebt weitergehende Ansprüche - und wird ihnen nicht ansatzweise gerecht!
Tassilo Schmitt