Rezension über:

Wolfgang Pentz: Sozialprotestantismus in den USA und Deutschland. Social Gospel und christlich soziale Bewegung bis 1914, München: Martin Meidenbauer 2005, 313 S., ISBN 978-3-89975-044-7, EUR 49,90
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Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Wolfgang Pentz: Sozialprotestantismus in den USA und Deutschland. Social Gospel und christlich soziale Bewegung bis 1914, München: Martin Meidenbauer 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/9300.html


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Wolfgang Pentz: Sozialprotestantismus in den USA und Deutschland

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Der Protestantismus in den USA und Deutschland ist Gegenstand der vorliegenden, an der Berliner Humboldt-Universität bei Rüdiger vom Bruch eingereichten Dissertation. Der gegenseitige Einfluss wird vom Autor unter dem Aspekt des sozialen Engagements und der theologischen Reflexion über das "soziale Evangelium Jesu" untersucht. Dabei zeigt sich, dass amerikanische "Social Gospel Movement" und deutsche "Christlich-soziale Bewegung" in engen personellen und ideellen Verflechtungen und Abhängigkeiten standen. In drei Schritten geht Pentz dieses Thema an:

Der "Hintergrund" betitelte Abschnitt (21-70) vergleicht den Protestantismus in beiden Ländern in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Ein protestantisches Staatskirchentum in Deutschland, das in die inneren Angelegenheiten der Kirche personell und theologisch hinein wirkte, aber auch die verschiedenen spirituellen Strömungen zumindest organisatorisch zusammen hielt, stand einem pluralen Protestantismus in den USA gegenüber, der jedoch über theologische Seminare die Rechtgläubigkeit seiner Professoren und Pastoren ebenso überwachte. Die "Frontier"-Mentalität richtete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Herausforderungen der Großstädte. Die über die Haltung zur Sklaverei gespaltenen Kirchen mussten Immigrationszuwächse bis zu einer Million Personen pro Jahr verkraften, von denen etwa die Hälfte aus Deutschland kam. Doch bei aller kritischen Haltung dem Sozialismus gegenüber in beiden Ländern kam es in den USA nicht zu einem Pendant zur deutschen Inneren Mission. Die praktische Sozialarbeit Theodor Fliedners und Johann Hinrich Wicherns, die politische Tätigkeit Adolf Stöckers und die programmatischen Veröffentlichungen Friedrich Naumanns sind Teil des von Pentz analysierten Sonderwegs diesseits des Atlantik.

Der "Vergleich" (71-149) geht auf inhaltlicher Ebene drei großen Themenfeldern nach. Christlich-soziales Engagement hatte im Protestantismus eine lange Tradition als "eine zutiefst humanistische Bewegung, die auf menschliches Leid reagiert" (71). Rechristianisierung und Beseitigung sozialer Not gingen bei der Inneren Mission und in amerikanischen Charity-Organisationen Hand in Hand. Erst der mangelhafte Erfolg privater Wohltätigkeit ließ den Ruf nach dem Staat laut werden. Der "Volksverein für das katholische Deutschland" motivierte auf protestantischer Seite sozialwissenschaftliche Bildungseinrichtungen. In Amerika beeinflusste die Wirtschaftswissenschaft die soziale Theologie. Ziel blieb in allem die Errichtung des Reiches Gottes. Doch die Differenzen zwischen einem innerweltlichen Verständnis der Reich-Gottes-Botschaft Jesu und seiner eschatologischen Verortung konnten nicht überwunden werden. Friedrich Naumann vertrat im Gefolge von Wichern und Stöcker eine Eigengesetzlichkeit der irdischen Lebensbereiche, während "Evangelisch-soziale" wie der Nürnberger Pfarrer Friedrich Rittelmeyer den Jenseitsglauben als hinderlich für entschlossene soziale Tätigkeit ansah. Auch auf der anderen Seite des Atlantik stand das Ringen um ein adäquates Verständnis des Reiches Gottes im Vordergrund des theologischen Bemühens der Social-Gospel-Bewegung. Eine Annäherung an den Sozialismus als weltanschauliche Idee und politische Partei blieb dagegen fast ausschließlich auf Deutschland beschränkt, wo nach der Jahrhundertwende einzelne preußische Pastoren Mitglieder in der SPD wurden.

Welche Netzwerke den amerikanischen und deutschen Sozialprotestantismus verbanden, wird von Pentz im Kapitel "Berührungen" (150-248) beschrieben. Gegenseitige Zuschreibungen nationaler Stereotype beruhten zum Teil auf mangelhafter Vermittlung der jeweiligen Kultur durch Auswanderer, von denen bis zum Ersten Weltkrieg etwa 5,5 Millionen Deutschland in Richtung USA verließen. Der akademische Austausch ging auf der Ebene der Studenten vor allem von Amerika nach Deutschland, für Professoren gab es beiderseitige Austauschprogramme. Ein sehr erhellendes Kapitel der Pentz'schen Studie ist die Übersicht über die theologischen und religiösen Zeitschriften. Sie werden auf ihre Relevanz für soziale Fragestellungen hin untersucht, doch lassen sich an den Autoren gut die intellektuellen Netzwerke zwischen den beiden Ländern darstellen. Das gilt auch für die Konferenzen, an denen Theologen der sozialen Richtung teilgenommen haben. Diese fanden im Umfeld der Weltausstellungen von Chicago (1893) und St. Louis (1904) statt und bereiteten den internationalen Kongress der Christlich-sozialen Bewegung in Besançon (1910) vor. Über die internationalen Zusammenkünfte konnten auch die Schweizer Religiös-Sozialen unter Leonhard Ragaz in das Netzwerk einbezogen werden. Eher problematisch gestaltete sich die Beteiligung der deutschen liberalen Protestanten am Berliner "Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt" (1910).

Die Studie von Wolfhard Pentz bietet einen soliden Überblick über sozial-theologische Strömungen im deutschen und amerikanischen Protestantismus. Die über Biogramme im Anhang erschlossenen Protagonisten werden in ihren Zusammenhängen vorgestellt und in die theologischen Strömungen der Zeit hinein gestellt. Quellenbasis sind dabei in erster Linie die in Zeitschriften publizierten Artikel sowie die über Sekundärliteratur erschlossene Korrespondenz. Hier liegt auch die Grenze der Studie. Denn die politische Brisanz sozialen Engagements protestantischer Theologen hätte bei Konsultierung staatlicher und kirchlicher Archive in ihrer Konflikthaltigkeit noch konturierter herausgearbeitet werden können, zumal ausdrücklich auf Lehrzuchtverfahren in beiden Ländern hingewiesen wurde (65 f.). Der Autor beschränkt sich auf die Darstellung dieser Konflikte in den Zeitschriften und Kongressvorträgen. Ein zweites Desiderat sei angemerkt: Zumindest der eine oder andere Ausblick auf die Nachgeschichte der Protagonisten nach 1914 wäre angebracht gewesen. Wie ist etwa die Wendung Rittelmeyers zur Anthroposophie aus seiner liberalen Theologie zu erklären? Welche Haltung nahmen die Religiös-Sozialen zwanzig Jahre danach dem nationalen Sozialismus Hitlers gegenüber ein? Der Erste Weltkrieg unterbrach zwar die Entwicklung der Evangelisch-Sozialen Bewegung, doch die Wirkungsgeschichte setzte sich ins 20. Jahrhundert hinein fort. Hier würde ein exemplarischer Ausblick auf die Haltung protestantischer Theologen zum Staatssozialismus sowjetischer und deutscher Prägung bei der geistesgeschichtlichen Einordnung der präzise analysierten Vorkriegsentwicklungen helfen.

Joachim Schmiedl