Andrea Langer (Hg.): Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert. Beiträge der 9. Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker und Denkmalpfleger in Leipzig, 26.-29. September 2002 (= Das Gemeinsame Kulturerbe; Bd. 1), Instytut sztuki Polskiej Akademii Nauk 2004, 419 S., ISBN 978-83-89101-29-7
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Der Arbeitskreis deutscher und polnischer Kunsthistoriker und Denkmalpfleger widmete seine 9. Tagung im September 2002 in Leipzig einem der schwersten aller denkbaren Themen, dem Umgang mit dem kulturellen Erbe in beiden Ländern im 20. Jahrhundert. Die aktuelle Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen auf politischer Ebene, die vor allem durch das Wiederaufleben historischer Kontroversen (etwa dem Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen) ausgelöst wurde, belegt sehr nachdrücklich, dass hier noch genügend Zündstoff für emotionsgeladene Konflikte vorhanden ist. Umso erfreulicher ist es daher, wie selbstkritisch und souverän deutsche und polnische Kunsthistoriker diese heißen Eisen inzwischen anpacken und gemeinsam diskutieren. Die insgesamt 23 Beiträge beschäftigen sich überwiegend mit dem Schicksal der Baudenkmäler in Deutschland und Polen, insbesondere vor dem Hintergrund der drei großen politisch-gesellschaftlichen Zäsuren des Jahrhunderts: 1919, 1945, 1989. Ein zweiter Schwerpunkt des Bandes ist dem schwierigen Themenkomplex der Kulturgutverluste ('Kunstraub', 'Beutekunst') gewidmet.
Nachdem die Tagungsberichte früherer Jahre von unterschiedlichen Institutionen herausgegeben wurden, hat der Arbeitskreis mit dem vorliegenden Band nun eine eigene Publikationsreihe unter dem Titel "Das Gemeinsame Kulturerbe" begründet. Herausgeber für diesen und den hoffentlich noch zahlreich nachfolgenden deutsch-polnischen Tagungsbände ist das Kunstinstitut der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Alle Beiträge sind in deutscher Sprache publiziert und haben jeweils (unterschiedlich lange) polnische Zusammenfassungen.
Am Beginn des Bandes stehen zwei Überblicksdarstellungen zum Umgang mit den Kulturgütern in Polen und Deutschland im 20. Jahrhundert (Andrzej Tomaszewski) sowie zur Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland im 20. Jahrhundert (Burkhard Körner). Insbesondere der Beitrag von Tomaszewski zeigt die den historischen Ereignissen geschuldeten gewaltigen Umbrüche auf, die die Denkmalpflege in beiden Ländern zu durchlaufen hatte. Die am Beginn des 20. Jahrhunderts von Dehio, Riegel und Dvořák aufgestellten neuen Doktrinen der Denkmalpflege, deren zentrale Absichten im Motto "konservieren, nicht restaurieren" zum Ausdruck kamen und die vor allem die Achtung vor dem Alterswert eines Bauwerks forderten, konnten sich unter den Bedingungen von totalem Krieg und nationalistischen Ideologien nicht behaupten. In den Trümmerwüsten Deutschlands und Polens entstand nach 1945 eine gewaltige Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit der Denkmalpflege, die häufig nur durch Heuchelei überwunden werden konnte. In den Wiederaufbaukonzepten setzten sich in Polen und den beiden deutschen Staaten sehr grundverschiedene Tendenzen durch. In Polen strebte man eine historisierende Wiederherstellung der Stadtbilder an, war aber gleichzeitig darum bemüht, die Baudenkmäler zu 'polonisieren', d. h. ihnen eine Fassung zu geben, die die tatsächliche oder angebliche Zugehörigkeit zur polnischen Geschichte unterstreichen sollte. In Deutschland trifft man nach 1945 dagegen vielfach auf eine Tendenz zur Verleugnung der Geschichte. Die Kriegzerstörungen wurden zum Anlass genommen, möglichst viel von der historischen Bausubstanz zu beseitigen und den Städten ein 'neues Gesicht' zu geben. Die politische Zäsur von 1989/90 gab beiden Ländern schließlich die Möglichkeit, sich von der Dominanz nationaler Kategorien bei der Bewertung der Kulturgüter zu verabschieden und das "gemeinsame Kulturerbe" zu entdecken.
Zahlreiche Beiträge des Tagungsbandes beschäftigen sich mit Einzelaspekten der Problematik des Wiederaufbaus kriegszerstörter Baudenkmäler und Stadtensembles nach 1918 und 1945. Dabei wird deutlich, dass die Rekonstruktion häufig keine neutrale Wiederherstellung eines vor der Vernichtung bestehenden Zustands war, vielmehr handelte es sich um eine bewusste Entscheidung für den Neubau in ganz bestimmten, mit politischen Intentionen verbundenen historisierenden Formen.
So weist Małgorzata Omilanowska in ihrem Beitrag zum Wiederaufbau von Baudenkmälern in Polen zwischen 1915 und 1925 darauf hin, dass wesentliche Grundlinien der allgemein bekannten polnischen Wiederaufbaupolitik nach 1945 schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vorbestimmt wurden. Die Autorin zeigt dies etwa am Beispiel der 1914 von deutschen Truppen zerstörten Altstadt von Kalisz. Die schon 1915 einsetzenden Wiederaufbaubemühungen von polnischer Seite hatten zum Ziel, die Gelegenheit der Kriegszerstörung zu nutzen, um die Stadt in einem rein nationalen Stil neu auferstehen zu lassen und dabei die 'Fehler' der gewachsenen Architektur zu beheben. Städte sollten so wieder aufgebaut werden, wie sie aussehen sollten und nicht wie sie vor der Zerstörung tatsächlich ausgesehen hatten. Die dabei entwickelten nationalromantischen Züge blieben nicht ohne Wirkung auf die spätere 'polnische Schule der Denkmalpflege'.
Die politische Relevanz der Wiederaufbaudebatte zeigt sich in Deutschland heute am deutlichsten beim Streit um die Rekonstruktion der Schlösser in Berlin und Potsdam. Hierbei stehen nicht kunsthistorische Aspekte sondern Fragen nach regionaler oder nationaler Identität sowie der politisch-gesellschaftlichen Symbolkraft von Architektur im Vordergrund. Dass es zu dieser Problematik keine Patentlösungen gibt, zeigt Dethard von Winterfeld in einem Überblick zum Schicksal deutscher Residenzschlösser nach 1945. Über die Zulässigkeit von 1:1-Reproduktionen zerstörter Baudenkmäler, so die Schlussfolgerung des Autors, entscheiden nicht kunstgeschichtlich-wissenschaftliche, sondern politisch-öffentliche Argumente "und es gewinnt, wer die stärksten Bataillone besitzt" (158).
Das aktuell zweifellos schwierigste Feld der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen sind Verlust und Verschiebung von Kulturgut in Folge des Zweiten Weltkriegs, für die in der tagespolitischen Diskussion häufig die emotionalisierenden Begriffe 'Kunstraub' und 'Beutekunst' verwendet werden. Die Bemühungen der Politik sind hierbei inzwischen in eine fast ausweglos erscheinende Sackgasse gemündet. Die Hauptursache sieht Nawojka Cieślińska-Lobkowicz, die als polnische Diplomatin selbst eine Zeit lang an den Verhandlungen teilnahm, in einer gegenseitigen Taubheit der teilnehmenden Parteien und der jeweiligen Öffentlichkeit. Die vollkommen andersartige Herangehensweisen von Deutschen und Polen an die Problematik wird in diesem Beitrag anschaulich geschildert. Auf einen kurzen Nenner gebracht, argumentiert die deutsche Seite formaljuristisch, die polnische Seite hingegen moralisch. Somit können beide Seiten von sich behaupten, Recht zu haben, ohne dass daraus irgendein praktischer Fortschritt erwachsen kann. Die Fähigkeit zur Selbstkritik, Sensibilität und zum Verständnis für die spezifische Situation des jeweiligen Gegenübers sind jedoch Grundvoraussetzungen für die erfolgreiche Bewältigung historisch gewachsener Konflikte. Leider verfügen die Politiker in Deutschland und Polen zurzeit nicht über diese Eigenschaften und sollten sich ein Vorbild an ihren Kunsthistorikern nehmen.
Christofer Herrmann