Uwe Albrecht / Anu Mänd (Hgg.): Art, Cult and Patronage. Die visuelle Kultur im Ostseeraum zur Zeit Bernt Notkes, Kiel: Verlag Ludwig 2013, 335 S., 94 Farbtafeln, ISBN 978-3-86935-184-1, EUR 44,80
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Bernt Notke gilt als einer der bedeutendsten Maler und Bildhauer im Nordosten Europas. Die für ihn gesicherten oder ihm zugeschriebenen Werke finden sich in fast allen Ländern des Ostseeraums und sind in ihrer Machart und Stilistik in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitend gewesen. Sie stehen einerseits am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit und andererseits verwischen sich dort die Grenzen von Malerei und Skulptur. Berühmt sind einige der Hauptwerke (insbesondere die Stockholmer St. Georgs-Gruppe) aufgrund ihrer theatralischen und monumentalen Inszenierung sowie der Verwendung unterschiedlichster Materialien.
Die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen ist das Ergebnis einer internationalen Tagung, die 2009 - zum Jubiläum des 500. Todestages von Notke - in Reval/Tallinn abgehalten wurde. Die insgesamt 18 in Deutsch oder Englisch verfassten Beiträge verteilen sich im Wesentlichen auf drei Themenblöcke: Neue Zugänge zum Werk Bernt Notkes, Stifter, Maler und Heilige im mittelalterlichen Ostseeraum, Die Materialien und Techniken in Notkes Werkstatt.
Diskussionsstoff um Bernt Notke und sein Umfeld gibt es genügend, denn die Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedene Richtungen bewegt. Während Notke auf der einen Seite als herausragender und produktiver Künstler gesehen wird, der ein gewaltiges (und durch Zuschreibungen immer mehr angewachsenes) Œuvre sein Eigen nennen kann, handelte es sich nach anderer Auffassung lediglich um einen Händler und Werkstattbesitzer, der selbst vielleicht gar nicht künstlerisch tätig gewesen ist. Außerdem lehnen einige Forscher alle Zuschreibungen radikal ab und beschränken sein Werk nur auf die drei durch Schriftquellen für Notke nachgewiesenen Werke in Lübeck (Dom: Triumphkreuz), Arhus (Dom: Hochaltar) und Reval (Heiliggeistspital: Hochaltar).
Welchen Beitrag zur Diskussion um das Werk Notkes liefert nun die im Sammelband präsentierte aktuelle Forschung? Zunächst ist auf den im Vorwort der Herausgeber formulierten wissenschaftstheoretischen Anspruch zu verweisen. Dort wird festgestellt, dass die kunsthistorische Forschung einen Paradigmenwechsel hinter sich habe. Demnach sei die traditionelle Form- und Stilanalyse durch die Untersuchung der "Visualkultur" abgelöst worden, bei der die "ganze visuelle Umwelt sowie die Rezeption der gesellschaftlich produzierten kulturellen Werte und Vorstellungen durch die Öffentlichkeit" (8) im Fokus des Erkenntnisinteresses stände. Daher sei es Ziel der Konferenz gewesen, das Schaffen Notkes aus neuer Perspektive und einem erweiterten Kontext heraus zu betrachten.
Der Leser muss jedoch mit Erstaunen feststellen, dass fast alle Autoren diese hehren Ansprüche ignorieren und mehr oder weniger der Tradition der bewährten objektorientierten stil- und quellenkritischen Arbeitsweise verpflichtet sind. Aus Sicht des Rezensenten tun sie dies auch zu Recht. Die im Vorwort vertretene 'moderne' methodische Sichtweise wird lediglich im ersten Artikel von Martin Wansgaard Jürgensen (Do we need Bernt Notke? ) vertreten. Der Autor kritisiert darin die Tradition der alten stilkritischen und auf 'Kennerschaft' basierenden Kunstgeschichte, die nur lineare Entwicklungsmodelle hervorgebracht hätte. Er plädiert stattdessen für "nonlinear models of interpretation" (21) und sympathisiert mit dem Konzept Wölfflins für eine 'Kunstgeschichte ohne Namen' (22). Würde man diesen Ideen folgen, gingen strenggenommen der Sammelband und die ihm zugrunde liegende Tagung eigentlich nicht konform mit den Anforderungen an die propagierte neue wissenschaftliche Sichtweise, da der Ausgangspunkt ja das Werk eines einzelnen Künstlers bzw. seiner Werkstatt gewesen ist. Charakteristisch für den von Jürgensen vertretenen Ansatz ist auch der Umstand, dass er als einziger der Autoren ohne Abbildungen von Kunstwerken auskommt und lediglich grafisch dargestellte Interpretationsmodelle zeigt. Überspitzt formuliert könnte man sagen, hier wird nicht nur eine Kunstgeschichte ohne Namen postuliert, sondern auch eine Kunstgeschichte ohne Kunstwerke.
Schon gleich der darauf folgende Beitrag von Elina Räsänen (The craft of the connoisseur) kann sozusagen als programmatischer Gegenentwurf zur Forschungssicht Jürgensens aufgefasst werden. Im ersten Teil ihres Beitrages setzt sie sich zunächst theoretisch mit den Methodendiskursen innerhalb der Kunstgeschichte auseinander und argumentiert hier wesentlich fundierter als Jürgensen. Die Autorin zeigt dann am Beispiel der Anna Selbdritt aus dem Dommuseum in Turku auf, dass nur die am Objekt geschulte Kennerschaft des Forschers Ausgangspunkt für substanzielle intellektuelle Interpretationen sein kann. Sie plädiert für eine moderne Form der Kennerschaft: "a connoisseur of the twenty-first century could instead be understood as an 'academic artisan', a person who practices her own craft" (37).
Auch die folgenden Beiträge, etwa von Kathrin Wagner zum Heiligkreuz-Retabel in Rostock oder von Jan Friedrich Richter zu Bernt Notkes Tätigkeit in Schleswig-Holstein basieren auf genauen stilistischen sowie technischen Beobachtungen und Überlegungen zu Händescheidungen, aus denen dann Schlussfolgerungen zur Werkstattstruktur bei Notke gezogen werden. Ähnlich verhält es sich im zweiten Themenblock, wo in erster Linie Arbeiten von Zeitgenossen Notkes dargestellt werden, um einen vergleichenden kunsthistorischen Blickwinkel auf andere Werke zu gewinnen, die zur gleichen Zeit in derselben Region entstanden sind (so im Beitrag von Anja Rasche zu Hermen Rode, von Ulrike Nürnberger zum Meister des Schinkel-Retabels in Lübeck, von Miriam Hoffmann zum Lübecker Antoniusmeister oder Julia Trinkert zum Retabel in der Kirche zu Källunge auf Gotland). Alle wesentlichen Beobachtungen und Schlussfolgerungen dieser Beiträge speisen sich aus dem genauen Studium der Objekte. Die Forderung aus dem Vorwort, die Forschung solle bei ihren Untersuchungen den Auftraggebern und Betrachtern "in allen möglichen Kontexten" (12) mehr Aufmerksamkeit widmen, wird in diesen Beiträgen nicht entsprochen. Die Gründe hierfür sind einfach, denn wir verfügen fast nirgends über verlässliche Informationen aus den Schriftquellen zum Umfeld von Auftraggebern und Rezipienten. In aller Regel steht dem Forscher nur das Kunstobjekt in seiner Materialität zur Verfügung.
Der Band endet mit einer Rezension des Buches von Peter Tångeberg zur Stockholmer St.-Georgs-Gruppe. Der Autor hatte pünktlich zum Notkejubiläum 2009 eine Arbeit vorgelegt, in der der Versuch unternommen wird, die Zuschreibung des herausragenden Stockholmer Werks an Notke als Mythos zu entlarven. Das 2011 im Druck erschienene Buch, das von Burkhard Kunkel in der Oktober-Ausgabe 2011 der sehepunkte positiv besprochen wurde, erfährt im vorliegenden Band durch Jan Svanberg eine inhaltlich entschieden negative Besprechung. Svanberg unterstellt Tångeberg Voreingenommenheit, weil dieser offenbar unter allen Umständen das Stockholmer Meisterwerk Bernt Notke ab- und einem unbekannten flämischen Meister zusprechen wolle. Dabei zeigt sich deutlich, dass die Subjektivität stilistischer Zuschreibungen grundsätzlich immer ein Problem darstellen wird. Die von Svanberg aufgeführten Schriftquellen verweisen jedoch mit Nachdruck darauf, dass die bisherige Zuordnung der Georgs-Gruppe an Notke wohl nach wie vor ihre Berechtigung hat.
Christofer Herrmann